Guy de Maupassant – Gesammelte Werke. Guy de Maupassant

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Guy de Maupassant – Gesammelte Werke - Guy de Maupassant


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rau­schen.

      Lang­sam schritt ich durch die­se Grä­ber­stras­sen, wo der Nach­bar die Nach­ba­rin nicht kennt, wo je­der für sich schläft und nie­mand mehr eine Zei­tung liest. Ich be­gann die Gra­bin­schrif­ten zu stu­die­ren. Das ist, ne­ben­bei be­merkt, eine der un­ter­hal­tends­ten Be­schäf­ti­gun­gen. Nie­mals habe ich über La­bi­che oder über Meil­hac so herz­lich la­chen müs­sen, wie über die pro­sa­i­sche Ko­mik so man­cher Gra­bin­schrif­ten. Wahr­lich, ihr In­halt ist zwerch­fel­ler­schüt­tern­der, als die Bü­cher Pauls de Kock, wenn er auch nur auf Mar­mor oder Sand­stein ge­schrie­ben ist.

      Vor al­lem aber zieht es mich auf die­sem Kirch­hof im­mer nach dem ein­sam lie­gen­den lee­ren Teil, der mit Cy­pres­sen und Ta­xus be­wach­sen ist; dem al­ten Quar­tier der To­ten, das nun bald wie­der neu­be­setzt sein wird, nach­dem man die mit mensch­li­chen Kör­pern ge­nähr­ten Bäu­me nie­der­ge­hau­en hat, um fri­sche Lei­chen un­ter klei­nen Mar­mor­stei­nen der Rei­he nach hier zu bet­ten.

      Als ich hier eine Zeit lang ge­weilt und mei­nen Geist wie­der er­frischt hat­te, fühl­te ich das Be­dürf­nis nach et­was An­de­rem und dach­te mir, es sei Zeit, die letz­te Stät­te mei­ner klei­nen Freun­din auf­zu­su­chen. Als ich nahe bei dem Gra­be war, fühl­te ich doch einen Stich im Her­zen. Arme Klei­ne! Sie war so lieb und gut, so duf­tig und frisch … und jetzt! … wenn man das da öff­nen wür­de! …

      An das Git­ter ge­lehnt klag­te ich ihr ganz lei­se mein Leid, moch­te sie es ver­ste­hen oder nicht. Schon woll­te ich hier­auf wie­der ge­hen, als ich eine schwarz­ge­klei­de­te Dame be­merk­te, die in tiefer Trau­er an dem nächs­ten Gra­be knie­te. Ihr zu­rück­ge­schla­ge­ner Crê­pe­schlei­er ließ mich einen hüb­schen Blond­kopf ent­de­cken, des­sen Haa­re sich dem nächt­li­chen Schwarz ih­rer Toi­let­te ge­gen­über wie ein Schim­mer des Mor­gen­rots aus­nah­men. Ich blieb noch.

      Sie war sicht­lich von tie­fem Kum­mer be­drückt. Das Ge­sicht in den Hän­den be­gra­ben, starr wie eine Bild­säu­le, ganz ver­sun­ken in ih­rem Schmerz, schi­en sie an ih­ren ge­schlos­se­nen und mit den Hän­den be­deck­ten Au­gen eine gan­ze Rei­he qual­vol­ler Erin­ne­run­gen vor­über­zie­hen zu las­sen. Sie selbst glich ei­ner To­ten, die an einen To­ten denkt. Dann er­riet ich plötz­lich, dass sie zu wei­nen be­gann, und zwar er­riet ich es an ei­ner klei­nen Be­we­gung ih­res Rückens, die dem Säu­seln des Win­des in ei­ner Trau­er­wei­de glich. Zu­erst wein­te sie lei­se, dann stär­ker, mit hef­ti­ger Er­schüt­te­rung von Hals und Schul­tern. Sch­liess­lich nahm sie die Hän­de vom Ge­sicht; ihre glän­zen­den Au­gen, wel­che voll Trä­nen wa­ren, ließ sie ei­ner Ir­ren gleich um­her­schwei­fen, wie wenn sie aus ei­nem tie­fen Trau­me er­wach­te. Sie sah, dass ich sie be­ob­ach­te­te und schi­en sich zu schä­men, denn sie ver­barg aufs neue ihr Ge­sicht in den Hän­den. Ihr Schluch­zen wur­de jetzt krampf­haft, und sie neig­te das Haupt auf den kal­ten Mar­mor. Wie sie so ihre Stir­ne dar­an lehn­te und der zu­rück­ge­schla­ge­ne um ih­ren Ober­kör­per wal­len­de Schlei­er die wei­ßen Kan­ten des Grab­mals be­deck­te, sah die­ses aus, als wäre es mit ei­nem neu­en Trau­er­flor um­wun­den. Ich hör­te sie plötz­lich seuf­zen; dann sank sie zu­sam­men und blieb mit dem Ge­sicht auf dem Stein re­gungs­los und ohne Be­wusst­sein lie­gen.

      Ich stürz­te zu ihr hin, rieb ihr die Hän­de, hauch­te ihr ins Ge­sicht und las zu­gleich die ein­fa­che Grab­schrift: »Hier ruht Lud­wig Theo­dor Car­rel, Ka­pi­tän der Ma­ri­ne-In­fan­te­rie; er fiel vor dem Fein­de in Ton­kin. Be­tet für ihn.«

      Die­ser To­des­fall hat­te sich ei­ni­ge Mo­na­te vor­her zu­ge­tra­gen, wie mir jetzt wie­der ein­fiel. Ich war zu Trä­nen ge­rührt und ver­dop­pel­te mei­ne Be­mü­hun­gen, die schliess­lich auch von Er­folg be­glei­tet wa­ren; sie kam wie­der zu sich. Ich war sehr be­wegt -- bei mei­nen vier­zig Jah­ren habe ich noch ein wei­ches Herz. -- Bei ih­rem ers­ten Au­gen­auf­schlag be­merk­te ich, dass sie mir dank­bar sein wür­de. Sie äus­ser­te denn auch ihre Er­kennt­lich­keit un­ter neu­en Trä­nen­strö­men und er­zähl­te mir stück­wei­se, von häu­fi­gem Schluch­zen un­ter­bro­chen, ihre Ge­schich­te. Der Ka­pi­tän war nach dem ers­ten Jah­re ih­rer Ehe in Ton­kin ge­fal­len; er hat­te sie, die el­tern­lo­se Wai­se, aus Lie­be ge­hei­ra­tet, denn sie be­sass kaum ge­nug, um die vor­ge­schrie­be­ne Kau­ti­on stel­len zu kön­nen.

      Ich trös­te­te und be­ru­hig­te sie, ich stütz­te sie und hob sie schliess­lich vom Bo­den auf.

      »Blei­ben Sie nicht län­ger hier; kom­men Sie!« sag­te ich dann.

      »Ich kann kaum einen Schritt ge­hen«, mur­mel­te sie.

      »Ich wer­de Sie stüt­zen.«

      »Dan­ke, mein Herr! Sie sind sehr gü­tig. Auch Sie woll­ten ge­wiss einen To­ten hier be­wei­nen?«

      »Ja­wohl, Ma­da­me!«

      »Eine Tote?«

      »Ja, Ma­da­me!«

      »Ihre Gat­tin?«

      »Nein, eine Freun­din.«

      »Man kann eine Freun­din eben­so sehr lie­ben, wie eine Frau; die Nei­gung kennt kein Ge­bot.«

      »Das ist wahr, Ma­da­me!«

      So gin­gen wir zu­sam­men fort, wo­bei sie sich auf mich stütz­te; in­des­sen trug ich sie mehr über die Wege des Fried­ho­fes, als dass ich sie führ­te. Als wir draus­sen wa­ren, über­fiel sie die Schwä­che von Neu­em.

      »Ich fürch­te, mir wird ganz schlecht«, mur­mel­te sie.

      »Wol­len Sie ir­gend­wo her­ein­ge­hen und et­was zu sich neh­men?«

      »Ach ja, mein Herr!«

      Ich be­merk­te in der Nähe ei­nes je­ner Re­stau­rants, wo sich die Leid­tra­gen­den nach be­en­de­tem Be­gräb­nis zu stär­ken pfle­gen. Wir tra­ten ein und ich ließ ihr eine Tas­se heis­sen Tee ge­ben, der sie sicht­lich zu er­qui­cken schi­en; ein flüch­ti­ges Lä­cheln glitt über ihre Lip­pen. Sie sprach mir von ih­rem Le­ben. Es sei so trau­rig, so un­säg­lich trau­rig, ganz al­lein im Le­ben zu ste­hen, ganz al­lein zu woh­nen bei Tag und Nacht, Nie­man­den mehr zu ha­ben, dem man Zärt­lich­keit, Lie­be und Ver­trau­en schen­ken kön­ne.

      Das al­les klang so na­tür­lich, so lieb­lich ge­ra­de­zu aus ih­rem Mun­de. Mir wur­de or­dent­lich warm ums Herz. Sie war noch sehr jung, zwan­zig Jah­re viel­leicht. Ich mach­te ihr ei­ni­ge höf­li­che Re­dens­ar­ten, die sie gern an­zu­neh­men schi­en. Dann schlug ich ihr nach Ver­lauf ei­ner Stun­de vor, sie in ei­nem Wa­gen nach Hau­se zu brin­gen, wor­auf sie dank­bar ein­ging. Im Fia­ker sas­sen wir so dicht ne­ben ein­an­der, Schul­ter an Schul­ter, dass ich ihre Kör­per­wär­me durch mei­ne Klei­der hin­durch fühl­te; die sinn­ver­wir­rends­te Emp­fin­dung üb­ri­gens, die ich ken­ne.

      Als der Wa­gen vor ih­rem Hau­se hielt, sag­te sie mit schwa­cher Stim­me:

      »Ich kom­me al­lei­ne nicht die Trep­pe her­auf, denn ich woh­ne im vier­ten Stock. Sie wa­ren schon so gut; wol­len Sie mich noch bis an mei­ne Tür füh­ren?«

      Wer war dazu be­rei­ter wie ich? Sie ging lang­sam, fast bei je­dem Schritt schwer auf­at­mend. Dann sag­te sie, als wir vor ih­rer Tür an­ge­langt wa­ren:

      »Tre­ten Sie doch einen


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