Letztes Blind Date - Norwegen-Krimi. Magnhild Bruheim

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Letztes Blind Date - Norwegen-Krimi - Magnhild Bruheim


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Donnerstag, 18. Oktober, 16.45 Uhr

      Marta Kristiansen wohnte in Tøyen. Ein feuchtkalter Luftzug strich durch die Straßen, durch die Tone vom Bahnhof aus ging. Sie holte eine kleine, füllige, ältere Frau in einem dunkelblauen Mantel ein. Die Frau stimmte genau mit dem Bild überein, das Tone sich unterwegs von Marta gemacht hatte. Als sie stehen blieb und den Schlüssel in einen Briefkasten an der Tür mit der richtigen Hausnummer steckte, war Tone sich sicher. Deshalb stellte sie sich vor und sagte: »Ich glaube, wir haben eine Verabredung.«

      Die Frau wandte ihr ein verwundertes Gesicht zu.

      »Ich habe eine Verabredung mit Marta Kristiansen«, berichtigte sich Tone für den Fall, dass sie sich geirrt hatte.

      »Ja, Marta wohnt hier«, sagte die Frau und ließ sie herein, ohne sich ihrerseits vorzustellen.

      Tone ging hinter ihr die Treppe hinauf.

      »Sie wollen also Marta besuchen«, sagte die ältere Frau, als sie vor ihrer eigenen Tür stand. Ihr Blick war neugierig, lechzte nach Informationen. »Sind Sie mit ihr verwandt?«

      Glücklicherweise hatte Tone sich nicht als Journalistin vorgestellt, sondern nur ihren Namen genannt.

      »Nein«, sagte sie und drehte sich um, um weiterzugehen.

      »Sie wohnt eine Etage höher«, rief die Frau ihr nach. »Die linke Tür.«

      Marta und Torbjørn Kristiansen stand auf einem Türschild aus Holz. Tone drückte auf die Klingel und dachte an die Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Was, wenn Marta auf ihrer Absage bestand? Was hatte sie eigentlich gesagt? Sie hatte irgendetwas in der Richtung gesagt, dass sie sich nicht treffen konnten, weil es ihr zu heikel war. In einem seltsamen Tonfall. Sie hatte keinen Grund genannt, keinen anderen Termin vorgeschlagen.

      Plötzlich stand sie vor ihr. Alles war so still vonstatten gegangen, dass Tone kaum gemerkt hatte, wie die Tür sich geöffnet hatte. Marta Kristiansen hatte keine Ähnlichkeit mit dem Bild, das Tone sich von ihr gemacht hatte. Sie hatte eine Frau zwischen siebzig und achtzig erwartet, die Frau in der Tür war kaum über fünfundsechzig. Sie war schlank, fast mager. Das Haar dunkelbraun gefärbt, aber der graue Ansatz deutlich sichtbar. Zwei braune Augen sahen Tone skeptisch an.

      »Ich bin Tone Tarud«, sagte Tone und streckte ihr die Hand hin. »Wir waren um fünf verabredet.«

      »Haben Sie die Nachricht nicht bekommen, die ich Ihnen auf den Anrufbeantworter gesprochen habe?«

      »Welche Nachricht?«, sagte Tone.

      »Ich habe Sie angerufen, um abzusagen. Weil es mir nicht passt.«

      Tone spielte die Überraschte. »Wann war das denn? Ich war die letzten Tage in Oslo. Deshalb habe ich den Anrufbeantworter nicht abgehört.« Sie sah die Frau ratlos an. »So ein Pech. Was machen wir jetzt?«

      Marta Kristiansen blieb ihr die Antwort schuldig. Oder sie fühlte sich nicht verpflichtet zu antworten.

      »Passt es Ihnen am späteren Nachmittag besser?«, versuchte es Tone. »Wenn Sie jetzt beschäftigt sind.«

      »Weder am späteren Nachmittag noch ein andermal«, sagte Marta bestimmt. »Ich habe mir die Sache noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Ich habe keine Lust, bei irgendeiner Sendung mitzumachen.«

      »Keine Lust, bei der Sendung mitzumachen?«, Tone war sehr enttäuscht und tat alles, um das auch zu zeigen. »Sie haben doch positiv auf meinen Brief reagiert ...«

      »Ja, aber die Dinge haben sich geändert.« Marta klang jetzt etwas freundlicher.

      Das gab Tone die Hoffnung, ihren Widerstand brechen zu können. »Was hat sich denn geändert?«, fragte sie.

      »Ich habe es mir einfach anders überlegt. Ich möchte das nicht.«

      Nun gut, irgendetwas hatte sich geändert. Tone wollte wissen, was, und war entschlossen, es herauszufinden. »Das überrascht mich jetzt etwas«, sagte sie und fügte hinzu: »Sie sind für mich eine der wichtigsten Kandidatinnen für die Sendung. In Ihrem Brief haben Sie Ihre Erfahrungen so gut in Worte gefasst. So etwas zu hören, tut anderen in einer ähnlichen Situation gut. Aber Sie müssen natürlich selbst entscheiden ...« Tone sah sie hoffnungsvoll an. »Können wir nicht kurz miteinander reden, ohne dass ich das Gespräch aufnehme? Vielleicht bringt mich das auf Ideen, worüber ich mit den anderen sprechen kann.«

      Marta Kristiansen zögerte.

      »Wenn Sie eine halbe Stunde hätten ...«, sagte Tone.

      Die Tür wurde geöffnet und Tone konnte hereinspazieren. Eine enge Diele führte ins Wohnzimmer. Sie sah sich schnell um. Eine Wand war ganz mit Fotos bedeckt. Drei Hochzeitsfotos waren darunter. Die eine Braut sah aus wie eine jüngere Ausgabe von Marta Kristiansen.

      »Sind das Ihre Kinder?«, fragte Tone und nickte zur Wand hin. Sie konnte auch gleich zur Sache kommen und mit dem schwierigen Teil beginnen.

      »Meine Tochter Frida«, antwortete sie und zeigte auf eines der Fotos. Sie ähnelte ihrer Mutter.

      »Und das da ist Lotte ... und Atle«, fügte sie hinzu. Das Bild war von einem Amateur aufgenommen worden.

      »Hatten Sie irgendwann den Eindruck, dass die beiden es nicht gut miteinander hatten?«, fragte Tone.

      »Ist es nicht meistens so, dass die Nächsten am wenigsten wissen?« Marta stellte sich neben das Bild, sah es jedoch nicht an. Stattdessen sagte sie zu Tone: »Ich hatte den Eindruck, dass es ihnen ging wie den meisten. Sie hatten gute und schlechte Tage. Genug gute, um zusammenzubleiben.«

      »Deshalb hat Sie überrascht ..., was passiert ist?«

      »Wie ich Ihnen geschrieben habe ... Man kann es einfach kaum glauben. Alles wird so unwirklich. Chaotisch. Wie wenn ein Unfall passiert und dir plötzlich klar wird, dass es dich erwischt hat.«

      Atle Kristiansen war in seiner Jugend ein ganz normaler Junge gewesen, hatte sie in dem Brief geschrieben. Der Gedanke, dass er einmal zum Mörder werden würde, lag ebenso fern wie die Vorstellung, dass er Staatsminister werden könnte. Seine Mutter konnte ihn sich nicht als Monster vorstellen. Das war einer der Gründe, warum Tone Marta Kristiansen unbedingt in der Sendung haben wollte. Sie repräsentierte die Mütter, die glaubten, ein Heim mit ganz normal funktionierenden Menschen geschaffen zu haben. Und die deshalb völlig überrumpelt waren, als ihr Kind plötzlich des Mordes beschuldigt wurde. Auf eine ehrliche und glaubwürdige Weise hatte sie beschrieben, wie sie rückblickend nach der möglichen kleinen Andersartigkeit in seinem Wesen gesucht hatte.

      Tone wollte, dass sie das jetzt wiederholte. Sie wollte, dass Marta sich warm redete und vergaß, dass sie sich nicht interviewen lassen wollte. Tone wollte die Hoffnung nicht aufgeben, dieses Haus mit einer ausgezeichneten Bandaufnahme zu verlassen. »Aber wie haben Sie reagiert, als Sie die Nachricht erhielten?«, fragte sie.

      »Zuerst habe ich erfahren, dass Lotte tot ist. Das war der erste Schock. Dann kam die Nachricht, wie sie gestorben ist. Ich war sicher, dass ein Fremder das getan hat. Ein Verrückter.«

      Sie standen noch immer vor der Wand mit den Familienbildern. Dann ging Marta Kristiansen zum Sofatisch und begann aufzuräumen. »All das habe ich Ihnen doch schon geschrieben«, sagte sie. »Es besteht kein Grund, mich zu wiederholen.«

      Sie war nicht so leicht zu täuschen, wie Tone gehofft hatte.

      In dem Brief hatte sie auch erwähnt, dass der Sohn ein Opfer seines Temperaments geworden war. Das war die Antwort, die die Mutter für sich gefunden hatte. Sie wusste, dass er sowohl in seiner Jugend als auch später zum Jähzorn neigte.

      »Wie lange haben Sie geglaubt, dass er unschuldig ist?«, fragte Tone.

      Marta Kristiansen blickte sie scharf an. Die Frage wühlte sie offenbar auf. Dann antwortete sie: »Ich weiß es nicht. Es bringt nichts, in diesen Dingen zu graben.« Sie machte eine Pause und sah auf die Uhr. »Man muss das hinter sich lassen, egal wie schlimm es ist«, sagte sie. »Darüber nachzugrübeln macht es nur schlimmer.«

      Sie


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