Die schönsten Pferdegeschichten. Lise Gast

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Die schönsten Pferdegeschichten - Lise Gast


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Der Nikolaus hatte ihn losgelassen, er rannte jetzt am Rand des hier aufgestapelten Misthaufens entlang, der großen Straße zu, Anja hinterher. Sie wußte selbst nicht, warum sie hinterherrannte, sie würde einen großen und starken Mann nicht aufhalten können, aber sie lief, so schnell sie konnte!

      Und da passierte es. Othello war schuld. Er hatte wohl angenommen, das wäre ein lustiges Spiel, und war halb neben, halb vor dem Mann im roten Mantel über den Schnee gesprungen, manchmal bockelnd, manchmal verharrend.

      Als der Nikolaus einmal eine kleine Kurve um einen der Pfosten herum machen mußte, die hier den Mist vom Weg abgrenzten, kam ihm der Ziegenbock vor die Füße. Er stolperte, fluchte, versuchte sich zu fangen, und es sah einen Augenblick lang so aus, als käme er wieder ins Gleichgewicht. Dann aber fiel er doch vornüber, in den Schnee, die Maske löste sich von seinem Gesicht und flog voraus, und da sah Anja etwas.

      Sie sah es nur einen ganz, ganz kurzen Augenblick lang. Dann hatte der vermeintliche Nikolaus sich aufgerafft, die Maske ergriffen und wieder vors Gesicht gesetzt, und nun rannte er, rannte, rannte –

      Aber sie hatte die Narbe gesehen. Eine Narbe, die sich an der linken Wange entlangzog, von der Schläfe bis zum Mundwinkel. Wenn Anja vorher nur rein gefühlsmäßig gemeint hatte, hier lauere Gefahr, so wußte sie es jetzt klar und genau: Dieser Nikolaus mußte der Mann sein, von dem Vater damals erzählt hatte. Der Mann, der kleine Jungen an sich lockte und mitnahm, vor dem die Lehrer gewarnt hatten, wegen dem die Eltern auf ihre Kinder aufpassen sollten …

      Was tun? Hinterherrennen? Sie konnte ihn nicht festhalten. Jemanden holen? Wen?

      Irgendeinen Erwachsenen.

      Ohne weiter zu überlegen, fegte Anja zurück, an Werner, der verdutzt und mit offenem Mund stehengeblieben war, vorbei, der Reithalle zu. Und wie es manchmal der Zufall fügt: Dort kam ihr jemand entgegen, in Stiefeln, Reithosen, die Kappe in der Hand: Cornelia. Besser konnte es gar nicht sein!

      „Cornelia! Cornelia! Ein Mann – ein – ein – er hat sich als Nikolaus verkleidet und wollte Werner mitnehmen –“

      „Was sagst du?“ fragte Cornelia. Anjas Worte überstürzten sich. Gleich darauf hatte die junge Ärztin verstanden.

      „Komm“, sagte sie nur und rannte los. Ihr VW stand an der Schmalseite des Stalles, vorn, also nicht zwischen Halle und Stall, sondern auf der entgegengesetzten Seite. Cornelia riß die Tür auf und war schon drin, stieß die andere nach außen.

      „Komm rein! Roter Mantel, sagst du? Den finden wir!“

      Sie startete. Die Gebäude des Reitvereins lagen etwas außerhalb der Siedlung, ein Weg – für Kraftfahrer verboten, für Anlieger frei – führte hin. Cornelia konnte hier nicht allzuschnell fahren, aber schneller als ein rennender Mensch war ihr Wagen natürlich immer noch. Am Ende des Weges sah sie eine Gestalt …

      „Ist er das?“ fragte sie und deutete mit dem Kinn nach vorn. Anja strengte ihre Augen an.

      „Ich weiß nicht –“

      „Guck genau hin.“

      „Und was machen wir, wenn er es ist?“ fragte sie dann. Cornelia hob die Schultern.

      „Ja, was! Einen Polizisten suchen.“

      Wo sollte wohl hier ein Polizist auftauchen! Die Gestalt, die sie beide vorhin gesehen hatten, war jetzt verschwunden. Wo konnte der Mann hin sein?! Cornelia hatte die Straße erreicht und nahm das Gas weg. Einfach ins Blaue oder besser Graue hineinzurasen hatte keinen Zweck. Da sah sie das Telefonhäuschen.

      „Warte, dort …“

      Sie hielt, sprang aus dem Wagen, riß die Glastür auf. Anja krabbelte auch heraus, sah die Straße hinauf und hinunter. Nichts. Wo konnte der Kerl nur hin sein?

      Sie sagte das zu Cornelia, als diese wieder herauskam. Die wunderte sich auch.

      „Nicht wahr? Wie vom Erdboden verschluckt.“

      Gleich darauf war der Streifenwagen da. Cornelia gab kurz Bescheid, der Polizist hörte zu, stellte ein paar Zwischenfragen, auch an Anja, sie antwortet so genau wie möglich. Daß es dunkel wurde, war natürlich ärgerlich.

      Sie fuhren dann zurück, Richtung Reitverein, und sahen sich dort um. Am Rand des Fahrweges stand Werner, Othello neben sich. Der Polizist fragte auch ihn aus. Er wußte nicht viel, nur daß der Nikolaus ihm allerlei versprochen hatte, wenn er mitkäme.

      „Und es war der Nikolaus. Ich habe ihn doch in der Halle gesehen! Mit dem roten Mantel!“

      „Ja, ja“, sagte der Polizist und nahm Werners Hand, „zeig mir mal, wo er gestanden hat. Und wohin ist er denn gelaufen?“

      Der Schnee war überall von unzähligen Fußspuren zertreten; es war unmöglich, eine Spur zu finden.

      „Dort rüber“, sagte Werner unsicher. Da wurde auf einmal Cornelia aufmerksam.

      „Dort rüber, sagst du?“

      Auf der anderen Seite des großen Misthaufens ging es steil bergab – hier war es ja überhaupt nicht eben, auch die Halle lag unterhalb des Stalles –, auf dieser Seite befand sich der kleine Sprunggarten. Der große für die Turniere lag hinter der Halle, nach dem Wald zu, der kleinere hier. Hier wurden von den Anfängern die ersten Sprünge gemacht, im Sommer standen blauweiße und rote Hindernisse aufgebaut, auch einen Graben und einen Tiefsprung gab es.

      „Kommen Sie“, sagte Cornelia halblaut und machte dem Polizisten ein Zeichen. Und dann gingen sie los, kletterten quer über den Berg aus gefrorenem Mist und dann zum kleinen Sprunggarten hinunter. Hier gab es so gut wie keine Möglichkeiten, sich zu verstecken; nur dort, wo eine Senkung ausgehoben worden war, damit der Reiter hinunterreiten, unten einen Sprung machen und wieder hinaufreiten mußte; Tiefsprung nennt man das. Und dort – wahrhaftig, als sie näher kamen, sahen sie es –, dort kauerte ein Mensch.

      Er trug keinen roten Mantel mehr, den hatte er ausgezogen und in einem Klumpen zusammengeballt auf der Erde neben sich liegen. Auch die Nikolausmaske hatte er nicht mehr auf, nur die Mütze. Die hatte er tief ins Gesicht gezogen.

      Cornelia fühlte trotz Zorn, Aufregung und Empörung ein tiefes Mitleid mit diesem Menschen in sich aufsteigen. Sie versuchte es zu unterdrücken. Aber es blieb. Sie als Ärztin wußte zu genau, daß es oft nur eine schreckliche Veranlagung ist, die einen Menschen zu solchen Dingen treibt, eine Art Krankheit, eine Besessenheit. Eine schuldlose –

      Deshalb aber mußten die Kinder doch vor ihm bewahrt werden. Es half nichts.

      Sie stand und beobachtete den Polizisten, wartete, ob sie noch irgendwie gebraucht würde. Als sie sah, wie der Verfolgte sich aufrichtete, auf Geheiß des Polizisten den Mantel nahm und wortlos vor ihm hertrottete, wandte sie sich ab, Anja zu. Die stand halb neben, halb hinter ihr, mit aufgerissenen Augen, blaß und verängstigt.

      „Komm“, sagte Cornelia und faßte Anjas Hand, „hier haben wir nichts mehr zu tun. Komm, und sei nicht so verschreckt. Es gibt halt solche Dinge in der Welt, Dinge, die man nicht ändern und nur schwer begreifen kann, auch als Erwachsener.“

      „Kommt er – muß er jetzt ins Gefängnis?“ fragte Anja leise. Cornelia drückte ihre Hand warm und gut.

      „Ins Gefängnis nicht. Er kommt in eine Art Krankenhaus, wo er behandelt wird, weißt du. Vielleicht ist es sein Glück, daß man ihn gefunden hat. Und du hast dich so tüchtig und tapfer benommen!“

      „Hab’ ich?“ fragte Anja und sah zu ihr auf. In ihren Augen leuchtete es. Cornelia lächelte ihr zu.

      „Ja, du hast. Woher wußtest du denn davon?“

      Anja erzählte von dem Gespräch ihrer Eltern, das sie mit angehört hatte.

      „Aber nicht an der Tür gehorcht, es war reiner Zufall“, versicherte sie. Cornelia nickte ihr zu.

      „Das glaub’ ich dir. Da ist ja auch Werner. Na, Werner, warum strolchst du auch hier draußen herum, wenn drin in der Halle der Nikolaus ist?“

      „Ach,


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