Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen. Emile Zola
Читать онлайн книгу.hinter sich zusperrten, um sich zu überzeugen, daß sie die alleinigen Herrinen daselbst seien. Wie viel Glück bargen diese vier Wände! Und wie viel zerbrochenes Spielzeug beleuchteten die hellen Sonnenstrahlen auf der Matte!
Die höchste Wonne des Kinderzimmers war aber der weite, unbegrenzte Horizont, Wenn man zu den übrigen Fenstern des Hotels hinausblickte, sah man nichts weiter, als schwarze Mauern, die einige Fuß weit entfernt waren. Von hier aus aber sah man die ganze Seine, ganz Paris von der Cité bis zur Bercy-Brücke, platt und endlos, an eine holländische Stadt gemahnend. Auf dem Quai de Bethune gab es halb versunkene Holzbaracken, Massen geborstener Bretter und Balken, zwischen welchen riesige Ratten ihr Spiel trieben, was die Kinder gerne mitansahen, allerdings von der leisen Furcht beherrscht, die schwarzen Tiere könnten an den Mauern auch zu ihnen emporklettern. Darüber hinaus aber begann das reine Zauberland. Der Kohlenabladeplatz mit seinen Eichenbohlen und Strebemauern und die Constantine-Brücke, die leicht und luftig wie eine Spitze unter den Füßen der Passanten sich wiegte, kreuzten sich in einem rechten Winkel und schienen die ungeheure Masse des Flusses zu bannen und zu beherrschen. Gegenüber grünten die Bäume des Weinmarktes und etwas entfernter die des Jardin des Plantes, die sich bis zum äußersten Horizont erstreckten, während auf dem jenseitigen Ufer der Quai Heinrich IV. und der Quai de la Râpée ihre niedrigen, ungleichen Bauten, ihre Häuserreihen entfalteten, die von oben gesehen, den kleinen Häuschen aus Holz und Pappe glichen, die man den beiden Schwestern zum Spielen gegeben. Im Hintergrunde ragte rechter Hand das bläulich schimmernde Schieferdach der Salpêtrière über die Bäume empor. Mehr in der Mitte bildeten die bis zur Seine hinabreichenden gepflasterten breiten Böschungen zwei lange graue Straßen, auf welchen stellenweise eine Reihe mächtiger Tonnen, ein bespannter Karren, ein mit Holz oder Kohle beladener Wagen zu sehen war. Doch der Hauptreiz, die Seele, welche das ganze Bild belebte, das war die Seine, der lebende Fluß, der von Weitem, unter dem unbestimmten, zitternden Rande des Horizontes wie aus einem Traumlande hervorkommend, geradewegs auf die beiden Kinder zuströmte, majestätisch ruhig, kaum seine mächtigen Fluten aufwühlend, die sich zu ihren Füßen, vor der Inselspitze verbreiterten und gleichsam einzuschlummern schienen. Die beiden Brücken, welche sie überspannten, die Bercy- und die Austerlitz-Brücke, schienen unentbehrliche Hemmketten zu sein, die die Fluten bändigen mußten, um sie zu verhindern, in ihr Zimmer emporzudringen. Die Kinder liebten diesen Riesen, sie konnten sich nicht satt sehen an diesem Strom, an dieser ewig grollenden Flut, die sich auf sie zuwälzte, wie um sich ihrer zu bemächtigen und die sie dann sich zerteilen und nach rechts und links, ins Unbekannte mit der Gelassenheit des gebändigten Titanen verschwinden sahen. An schönen Tagen, an heiteren Morgen waren sie entzückt über die schönen Kleider der Seine; es waren das gar verschiedene Kleider in allen Abstufungen von grün und blau mit seidenen Falten an den Rändern, welche die an den beiden Ufern ankernden Fahrzeuge mit schwarzen Sammtbändern zu verzieren schienen. Weiterhin wurde das Zeug noch kostbarer und bewunderungswürdiger und glich der verzauberten Gewandung aus einem Feenmärchen und hinter dem dunkelgrünen Streifen, welchen die Schatten der Brücken auf das Wasser warfen, kamen wieder goldschimmernde Flächen, ganze Felder, welche aus Sonnenstrahlen gewebt zu sein schienen und in welchen sich der endlose Himmel, die niedrigen Häuserreihen, die Bäume der beiden Parkanlagen spiegelten.
Als Renée heranwuchs und aus dem Pensionat bereits mit Anwandlungen sinnlicher Gelüste heimkehrte, warf sie zuweilen, wenn dieser unbegrenzte Horizont sie ermüdet hatte, einen Blick in die Schwimmschule hinab, welche sich an der Inselspitze befand. Und zwischen den an Leinen aufgehängten Wäschestücken, die die Stelle der Decke vertraten, suchte sie nach den Badehosen tragenden Männern, deren nackte Bäuche zu sehen waren.
III.
Bis zu den Sommerferien des Jahres 1854 blieb Maxime im Colleg zu Plassans. Er war dreizehn Jahre und etliche Monate alt und hatte sein fünftes Schuljahr absolviert. Zu dieser Zeit entschloß sich sein Vater, ihn nach Paris kommen zu lassen. Er sagte sich, daß ein Sohn in diesem Alter sich ganz gut ausnehmen und dazu dienen würde, ihn in seiner Rolle als reichen und ernsten Witwer, der eine zweite Ehe eingegangen, zu unterstützen. Als er mit seiner Gattin, der gegenüber er sich einer großen Zuvorkommenheit befleißigte, über dieses Projekt sprach, erwiderte sie nachlässig:
»Mir ist's recht, lassen Sie den Jungen kommen... Er wird uns ein wenig zerstreuen. Am Vormittag ist es bei uns ohnedies zum Sterben langweilig.«
Acht Tage später langte der Junge an. Es war das ein schmächtiger, hochaufgeschossener Schlingel mit dem Gesicht eines Mädchens, zarter, kecker Miene und ganz blondem Haar. Doch wie lächerlich sah der Knabe aus! Sein Kopf war ganz geschoren, das Haar so kurz, daß der Schädel kaum beschattet war; dazu trug er Beinkleider, die ihm zu kurz waren und eine Bluse, die zu weit geraten, ganz fadenscheinig war und ihm den Anschein gab, als hätte er einen Höcker. In diesem Aufzuge und überrascht von den neuen Dingen, die er hier sah, blickte er um sich, allerdings ohne Furcht, mit der wilden und schlauen Miene eines frühreifen Kindes, welches sich nicht auf den ersten Hieb ergibt.
Ein Diener hatte ihn vom Bahnhofe abgeholt und er befand sich in dem großen Salon, dessen vergoldete Decke und Einrichtung ihn entzückten; während ihn der Gedanke an all' die Pracht, in welcher er fortan leben sollte, ganz glücklich machte, als Renée, die von ihrem Schneider heimkehrte, wie ein Wirbelwind hereinstürmte. Sie warf ihren Hut auf den weißen Burnus, den sie zum Schutze gegen die bereits empfindliche Kälte angelegt hatte, ab und erschien dem vor Bewunderung ganz bestürzten Maxime in dem vollen Glanz ihrer herrlichen Toilette.
Der Knabe meinte, sie sei verkleidet. Sie trug einen herrlichen Rock aus blauer Fayeseide mit großen Falbeln, darüber eine Art Rock der garde française aus zart grauer Seide. Die Rockschöße, mit blauer Seide gefüttert, waren galant zurückgeschlagen und durch Bänder festgehalten; die Verzierungen der Ärmel, sowie die breiten Überschläge des Leibchens waren aus demselben Zeug. Und gleichsam als Krone des Ganzen zogen sich große Knöpfe in der Farbe des Saphirs, in azurblaue Rosetten gefaßt, in zwei Reihen von den Hüften bis zum Saum hinab. Es war häßlich und anbetungswürdig zugleich.
Als Renée ihren Stiefsohn bemerkte, war sie erstaunt zu sehen, daß er beinahe ebenso groß war wie sie und wendete sich mit der Frage zu dem Diener:
»Das ist wohl der Kleine, nicht wahr?«
Das Kind verschlang sie förmlich mit den Blicken. Diese Dame mit der weißen Haut, deren Busen aus dem Spalt der gefältelten Brustkrause hervorlugte, diese plötzliche reizende Erscheinung mit der hohen Haartracht, den fein beschuhten Händen und den kleinen Männerstiefletten, deren spitzige Absätze sich in den Teppich versenkten, entzückte ihn und erschien ihm als die gute Fee dieses warmen goldschimmernden Raumes. Er begann zu lächeln und benahm sich gerade linkisch genug, um seine knabenhafte Anmut beizubehalten.
»Ach! wie drollig er ist!« rief Renée aus, »Doch wie schrecklich! man hat ihm den Kopf beinahe rasirt!... Höre mich an, mein kleiner Freund, Dein Vater wird offenbar vor dem Diner nicht nach Hause kommen und ich werde gezwungen sein, Dich unterzubringen... Ich bin Ihre Stiefmutter, mein Herr... Willst Du mir einen Kuß geben?«
»Gewiß will ich,« erwiderte Maxime rundheraus.
Und damit küßte er die junge Frau auf beide Wangen, indem er sie bei den Schultern faßte, wodurch der graue Seidenüberwurf ein wenig verschoben wurde. Lachend machte sie sich los, indem sie sagte:
»Mein Gott, wie drollig der kleine Schlingel ist!« Und etwas ernster fügte sie hinzu: »Wir werden Freunde sein, nicht wahr?... Ich will Ihnen eine Mutter sein. Ich dachte hierüber nach, während ich bei meinem Schneider wartete, der mit anderen Damen beschäftigt war und ich sagte mir, daß ich zu Ihnen sehr gut sein und Sie tadellos erziehen müsse... Das wird hübsch sein!«
Noch immer blickte Maxime sie mit seinen blauen Augen an – diesen Augen eines kühnen Mädchens – und mit einem Male fragte er:
»Wie