Das fiebernde Haus. Walther von Hollander

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Das fiebernde Haus - Walther von Hollander


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Elise sah das Bild an und seufzte. „So jung, mein Gott.“

      Aber Urk hörte nicht mehr. Sollte er bei „letzter Wohnort“ Kolonie Schönfliess bei Dorf Kreuth am Ammersee schreiben? Das kam ihm wie eine Indiskretion vor. Ausserdem war er ja zuletzt bei Leschkas gemeldet. Er schrieb also: Würzburger Strasse 12IV bei Leschka, löschte die Tinte ab, reichte Elise den Zettel und schob sie hinaus. Dann nahm er das Bild seiner Frau und betrachtete es lange. Da, unter dem Mund hatte sich Staub angesetzt. Er wischte leise mit dem feuchten Taschentuch darüber und packte das Bild wieder ein.

      Aus dem zweiten Stock kam Grammophonmusik, im vierten ging ein Mann stampfend und stapfend auf und ab, beinahe eine Stunde lang. Als er endlich Ruhe gab, fing im Hinterhaus ein wüstes Gezänk an. Das endete in Klatschen und Geheul. Täglich um Punkt elf prügelte der Ingenieur Strupp seine Frau.

      III

      Am 1. April wachte Urk früher als sonst auf. Ein Autobus stampfte vorüber und liess das Bett im Erker zittern und leise schwanken. Das wiederholte sich jeden Morgen kurz nach sechs, denn man hatte eine neue Autobuslinie eingerichtet, die durch die Lutherstrasse ging.

      Urk wollte sich eigentlich an langes Schlafen gewöhnen. Das Stadtleben strengte ihn immer noch sehr an. Aber dieser erste Wagen schnitt mit seinem Stampfen jeden Schlaf durch. Die kurze Spätnachtstille der Grossstadt wurde damit beendet, und die Geräusche hörten dann nicht mehr auf. Urk mochte zuerst nichts hören und nichts sehen. Was ging ihn die Stadt, was ging ihn das Haus an? Aber erst waren es die Geräusche, denen er nachsann. Dann sah er schon den ersten Menschen nach, fing ihre Namen auf, wurde mit ihren Gewohnheiten und Beschäftigungen bekannt, und schon nach einer Woche hatte das Erwachen des Hauses keine Geheimnisse mehr für ihn. Er konnte bald die regelmässigen Geräusche von den unregelmässigen unterscheiden.

      Da kam erst das dumpfe Poltern der Kohlen im Heizraum. Dann schrillten die ersten Wecker. Die Brötchenholer und Bäcker stapften über das Pflaster, und während die Proletarier unter den Arbeitern, die um sieben Uhr an der Arbeit sein mussten, das Haus verliessen, setzten die Wecker der besseren Arbeiter ein, der kleinen Bureauangestellten, begann Gähnen und Zank der Mittelständler, deren Arbeit um acht Uhr anfing. Sie gingen aus dem Haus, begleitet von den Schulkindern, die es arbeitsmässig so schwer hatten wie die Erwachsenen, die ihren eintönigen und bedrückenden Pflichten nachkommen mussten, ohne die Rechte der Erwachsenen zu haben. Zwischen halb neun und neun gingen die gehobenen Angestellten fort und die kleinen Beamten, eine ganze Kolonne von mittelmässigen Existenzen, um die es sich nicht viel Aufhebens lohnt, während die Selbständigen und die Prokuristen noch beim Kaffee sassen, einen Blick in die Zeitungen warfen und, zwischen den Zigarrensorten kramend, ein Sortiment für den Tag zusammenstellten. Sie fingen offiziell erst um zehn Uhr zu arbeiten an, obgleich manche schon eine viertel, ja eine halbe Stunde früher auf dem Posten waren.

      Ministerialrat Garleb zum Beispiel verliess stets um 9 Uhr 8 Minuten das Haus. Er legte Wert darauf, den Wagen der Linie 60 zu erreichen, der um 9 Uhr 16 die Motzstrasse passierte und zwischen 9 Uhr 32 und 35 beim Ministerium eintraf. Um 9 Uhr 12 fuhr Direktor Wagenknecht von der D-Bank in seinem kleinen Auto fort. Kurz danach stürzte Fräulein Messerschmidt aus dem Haus, in der linken Hand eine Zigarette schwingend, während die rechte Hand die graue Kostümjacke über dem quellenden Busen zu schliessen suchte. Fräulein Messerschmidt hätte um 9 Uhr in ihrem Bureau sein müssen, und man kann sich denken, warum sie es sich erlauben durfte, beinahe täglich eine Stunde nach Arbeitsbeginn zu erscheinen.

      Fräulein Messerschmidt auf den Fersen folgte Herr Pellmann jun., mit seinem Vater zusammen Inhaber des bekannten Antiquariats Pellmann Söhne, ein Mann, der mit erst vierzig Jahren bereits eine Autorität auf dem Autographenmarkte war. Pellmann jun. führte, obwohl seine Beine genügend gebogen waren, seinen Dackel Ecke mit sich (ein ungewöhnlicher Name, der sich von der Hundevorliebe des Dackels für Ecken herleitete und so recht den treffenden Witz Pellmanns illustriert). Hinter Pellmann jun. winkte mit reichlichem Juhu Frau Pellmann jun. her, während Pellmann sen. mit seiner Frau um 9 Uhr 45 ein kräftiges „Auf Wiedersehen“ wechselte.

      Dass der Agent Knöter erst um 9 Uhr 50 schwer keuchend mit zwei Handtaschen das Tor passierte und seinen Tag begann, war weniger durch die Gehobenheit seiner Stellung bedingt als durch die Tatsache, dass die Chefs ja doch erst nach 10 Uhr zu sprechen waren. Um Punkt 10 Uhr beendete der Filmdirektor Hutscheer den Reigen der Regelmässigen, nachdem bereits eine Viertelstunde lang sein Chauffeur eine fürchterlich lärmende Mahnung gehupt hatte. Mit Hutscheer fuhr häufig seine dreizehnjährige Tochter, ein zierliches Mädchen mit einem ihrer verstorbenen Mutter nachgemachten lasterhaften Zug um die Lippen, ein frühreifes Geschöpf, das sich oft tagelang in den Filmateliers herumtrieb, und dessen Unterricht in den Händen eines modernen Pädagogen lag, der viermal wöchentlich ins Haus kam.

      Nach 10 Uhr blieben dann nur noch die Hausfrauen zurück, die mit Lärm ihr Hauswerk begannen, oder, wenn sie besser gestellt waren, schnatternd an den Telephonhörern hingen, die Haustöchter, die auf den Mann warteten oder auf Abenteuer sannen, die kleinen Kinder, die auf der Strasse herumbrüllten, die Treppenhäuser und den Hof nach Unterhaltungsmöglichkeiten durchforschten und die schlechten Launen der Erwachsenen ausbaden mussten, und endlich die unsicheren Kantonisten beider Geschlechter und jeglichen Alters. Die Rentner und Pensionierten, die Arbeitslosen und Abgebauten, ein Schriftsteller, ein Schauspieler, zwei Verhältnisse, der Schuster im Keller, die Pastorenwitwe Möhle, die eine Art Pension im Hinterhaus hatte (ein Heim für Heimatlose, pflegte sie zu sagen, wenn die Portionen gar zu mager wurden), der schon erwähnte Referendar a. D. Dr. Bresch (kurz gesagt, ein Commis voyageur in geistigen Dingen), der Ingenieur Strupp, der von Gott weiss was für dunklen Geschäften lebte, die Malerin Fräulein Vogeley, der praktische Arzt Dannhauer, der auf Kundschaft wartete, der Privatdetektiv Schürf, der halbe Tage mit dem Portier und dem Schuster Skat spielte, Herr Falluhn, der angeblich Beziehungen zu den Sowjets hatte, die Prostituierte Ida Herbst, ein reicher Mann namens Hans Georg Bienert, und endlich Urk.

      Urk: das war nun freilich für Urk das schwierigste Kapitel. Er sass da in seinen Zimmern und dachte eifrig über die Menschen des Hauses nach, als gingen die ihn etwas an. Er lief oft durch seine Zimmer über den Flur weg, vom Strassenfenster zum Hoffenster, um einem Bewohner nachzuschauen, oder einen Besucher als nicht hierhergehörig zu entlarven. Nachdem er erst einmal damit angefangen, trieb er es bald als einen Sport, die Struktur des Hauses schnellstens zu erforschen, immer genauer zu erfühlen, was denn eigentlich in diesem Gewirr von Zimmern, diesem Komplex von Steinschachteln sich vollzog, begann, vollendet wurde, aufhörte.

      Es hatte ihn ganz wider sein Erwarten und seinen Willen ein Jagdfieber gepackt. Das war das genaue Gegending seines bisherigen Lebens. Urk, der während dreier Jahre monatelang mit keinem anderen Menschen gesprochen hatte als mit seiner Frau, Urk, der tagelang auch mit seiner Frau oft kaum ein Wort gewechselt hatte, erkannte jetzt erst Sinn und Abgrund des Wortes Dasein. Dasein: das hatte er doch wohl beinahe gehabt? Oder gar ganz? Es war ihm, als müsse er hinter sich greifen, um sich festzuhalten. Sei es, dass er auch nur den Schatten der Toten umarmen könne oder seinen eigenen starren Schatten. Die Gesellschaft der toten Annette, das vergangene Dasein, das war bunt und trächtig gegen dieses eingetrocknete, aschene, ausgelaugte Leben, das ihn nun umgab.

      Jeder dreht sich um sich, dachte er, das ist klar. Jeder dreht sich für sich, das mag auch sein. Jeder dreht sich nach dem gleichen Gesetz, das ist selbstverständlich. Warum aber spürt niemand, dass alles Lebendige nach Ursprung, Dasein und Ziel, nach Anfang, Mitte und Ende, nach Ursache und Wirkung dem Gleichen entstammt, das Gleiche ist und das Gleiche erstrebt? Was soll diese Fiktion der Feindseligkeit von Mensch zu Mensch. Keiner kann den zu Fall bringen, der sich nicht selbst zu Fall bringt. Die Feindschaft gegen Menschen ist nur die Feindschaft gegen dich selbst. Der Kampf ums Dasein nur der Kampf um dich selbst.

      Gegen Abend notierte er in sein Tagebuch, dem er immer nur die Resultate, nie die Wege seines Denkens anzuvertrauen pflegte: „Dasein ist eine Fiktion, handle danach. 7. 4. 25.“ Als er das niedergeschrieben hatte, stutzte er und musste lachen. Nein, so war es noch nicht richtig. „Dasein“, verbesserte er, „ist eine Fiktion. Also gefährlich.“

      Dann trat er ans Fenster, von der Platane erhob sich ein Schwarm von Spatzen, lärmte durchs Gebüsch und kehrte ins Geäst zurück.


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