Das fiebernde Haus. Walther von Hollander

Читать онлайн книгу.

Das fiebernde Haus - Walther von Hollander


Скачать книгу
als habe sie nie jagen wollen. Über die Häuser weg tönte das Pfeifen eines Stares. Vielleicht fünf Minuten lang war der Hof ganz leer. Dann kam Kohlomann mit einem Ascheimer, den er umständlich säuberte, in den Küchen flammten die ersten Lichter auf. Bald wurden ein paar andere Zimmer hell. Und da man noch nicht die Vorhänge vorzog, konnte man weit hineinsehen. Da sassen im Gartenhaus eine ganze Anzahl Damen um einen Tisch und bewegten die Köpfe hin und her, Fräulein v. Meyer hob eine Näharbeit ins Licht der Lampe, und ganz unten hielt eine Mutter ein scheinbar krankes Kind in die warme Luft hinaus, während ein Mann im Hintergründe das Bett aufschichtete. Bald kamen dann die Berufsleute heim, überquerten schnell und türenschlagend den Hof. Hier und da kam ein Lachen zu den Fenstern hinauf, oder der Rauch der abendlichen Zigarren, öfter noch Lärm und Türenschlagen, Geschrei und Fluchen. Die Übermüdeten zankten sich mit den Gelangweilten, ab und zu schrillte ein Telephon, wurde Zank von Ferngeschwätz unterbrochen. Je kühler es wurde, um so ferner rückte der Lärm, weil die Fenster geschlossen wurden oder zuknallten. Schliesslich war es, als stöhnten nur einzelne Steine, als wimmerten die Mauern in den Fugen, als zitterten die Wände unter dem Ansturm von Zorn, Verzweiflung, Gereiztheit und Feindschaft.

      Als sich Urk endlich abkehrte und auch sein Fenster schloss, war er nicht weitergekommen. Er hatte die Arme auf dem Rücken verschränkt und schaukelte sich ein wenig in den Knien. Immer unklarer wurde ihm der Sinn seines Schicksals. Die Frage, um die seit sechs Monaten ruhig und unablässig sein Denken und Handeln kreiste, die Frage, warum ihm seine Frau gestorben war, wurde quälend, weil er zu gar keinem Ergebnis gelangte.

      Nun kam das Dunkel. Wieder war ein Tag vorbei. Er hatte hinter den Menschen hergesehen, hatte sie beobachtet und belauscht. Er, der einzig Untätige zwischen den Tätigen. Untätig? Das war nur gut! Um dieses Leben lohnte es nicht, eine Hand zu heben.

      Plötzlich musste er im Grübeln innehalten und erschreckt Licht machen. Nah und sehr verstärkt tönte das Wimmern des Zornes und der Feindschaft, das er eben hatte aus den Mauern schwingen hören. Deutlich war da ein gereiztes, bellendes Weinen, nicht mehr ganz menschlich und noch nicht tierisch, ein leises, durchdringendes Schluchzen und Stammeln, als wolle ein Sprachloses Sprache gewinnen.

      Ohne nachzudenken lief Urk durch den Flur, riss die Tür des Berliner Zimmers auf und machte Licht. Das Wimmern setzte einen Augenblick aus. Dann aber kamen kleine rauhe Schreie aus der Ecke. Das musste — ihm fiel es nach einer Gedankenpause des Erstaunens ein — natürlich Erna Bermann, die verrückte Tochter der Bermanns, sein.

      Das war freilich nicht ohne weiteres ein Mensch zu nennen. Ein schwammiger, fast viereckiger Körper stand da auf zitternden und dicken Beinen, ein niedriger Hals schien von einem quadratischen breitbackigen Kopf zwischen die Schultern gedrückt. Ein Gesicht war Urk zugewandt, das, von einer Menge starrer und tiefer Querfalten durchzogen, etwas halb greinendes, halb überanstrengtes hatte. Ein Gesicht, das, eine Mischung von Baby und Greis, die Hilflosigkeit beider Menschformen vereinigte. Üppige Frauenlippen leuchteten rot aus dem käsigen Weiss der Haut, aber ein deutlicher Schnurrbart zerstörte auch diesen Reiz. Die blauen Augen waren gross und schön, und hinter ihrer erschreckenden Starrheit leuchtete vielleicht zuweilen etwas Menschliches.

      Da Urk, die Hand am Lichtschalter, regungslos stehengeblieben war, liess die Verrückte langsam ihre abwehrend erhobenen Arme sinken, hob sie noch einmal halb und liess sie dann fallen, als wären Gewichte daran. Sie lachte sogar, rauh, heiser und gutmütig und schüttelte langsam den schweren Kopf. Dann liessen auch die starren Augen Urk los, und das Wimmern setzte verstärkt von neuem ein. Ein Bellen und Röhren, ein Gurgeln und Winseln, ein Wimmern und Stöhnen, dass Urk gerne dieses Wesen bei den Schultern genommen hätte, um es zu trösten. Aber als er nur einen Schritt machte, geriet das Mädchen sofort wieder in Abwehr, und Urk musste eine ganze Weile starr stehen bleiben, beinahe ohne zu atmen, ehe die Augen ihn wieder losliessen und das Weinen von neuem begann. Urk schloss die Augen und versuchte zu hören. Was rief diese verdunkelte Seele? Es klang wie in einen hohlen Abgrund gerufen, als angele der Schrei nach Widerschrei und Echo, als suche das Wimmern nach Bild und Widerbild. „Ein verrückter Narziss“, fuhr es ihm durch den Kopf.

      Nach einer Weile öffnete sich die jenseitige Tür. Das Wimmern schlug jäh in Fauchen um, und das Wesen stürzte sich katzenartig auf die eintretende Frau Bermann. Die sah Urk erstaunt an. Dann ergriff sie die Kranke bei den Händen und drückte sie mit der Gewandtheit eines Krankenwärters auf einen Sessel. Das Fauchen steigerte sich noch und endete in einem jammervollen Stöhnen. Der Körper sackte ganz zusammen. Das Gesicht zerschlaffte nach unten, über die Augen klappten hellrote Augendeckel. Eine graue Maske, undurchdringlich wie Dämmerung, bedeckte das Geheimnis. Urk wandte sich eilig und ging in sein Zimmer.

      Nach einer halben Stunde erschien Frau Bermann bei Urk, um sich zu entschuldigen. Nicht immer seien die Anfälle so heftig wie heute. Nein, die Kranke habe sich noch nicht ganz beruhigt. „Sie wimmert aber so leise, dass es kaum mehr zu hören ist“, schloss sie streng und legte die Arme leicht ineinander, die Handflächen nach innen.

      Urk rückte für Frau Bermann den Stuhl in die Ofenecke, denn es schien ihm, dass sie fror. Frau Bermann lächelte dankbar und setzte sich. In der milden Beleuchtung der Lampe sah man kaum die weissen Strähnen, die in drei schmalen Wegen das schwarze Haar durchquerten, sah man nicht die Gramringe um die Augen, die so oft Augen alt und abgründig erscheinen lassen.

      Sichelförmig, wie ein roter Viertelmond, stand das Lippenpaar in dem kleinen Gesicht, das klar und schüchtern, durchscheinend und undurchdringlich sich Urk zuwandte. Ist sie 25, ist sie 50? dachte Urk. Man kann es nicht sagen, also ist sie ein Mensch. Frau Bermann nahm das Gespräch noch einmal auf: „Merkwürdig ist, dass sie keine Angst vor Ihnen hatte. Ich bekam einen grossen Schreck, als ich Sie im Zimmer sah. Während der Anfälle darf sonst nie ein Fremder im Zimmer sein.“ Urk antwortete, dass er ja schliesslich auch Mediziner sei. Vielleicht ... „Ach, die Mediziner“, lachte Frau Bermann beinahe fröhlich. „Nein, die Mediziner sind nie mit ihr fertig geworden.“

      „Ich bin nicht gerade fanatischer Anhänger der Medizin,“ sagte Urk leichthin, um das Gespräch im allgemeinen zu halten, „und ich finde auch nicht, dass sie viele Krankheiten heilen kann. Aber die Gründe der Krankheiten kann sie zuweilen ganz gut erkennen.“ Frau Bermann zuckte unmerklich zusammen, sie sah Urk aufmerksam an, als habe er ihr etwas Wichtiges verschwiegen.

      „Ich weiss den Grund“, flüsterte sie und wurde ganz weiss. Wirklich (wie seltsam!), sie wusste plötzlich den Grund, und es schlug ein Frost hart durch ihr Herz. Sie zügelte sich heftig, denn sie hatte ein brennendes Verlangen, das Erkannte zu sagen. Diesem Mann zu sagen? Diesem Mieter? Sie stand eilig auf, sie schnellte geradezu in die Höhe. Wenn sie es diesem Unbekannten nicht sagte, einem ihrer wenigen Bekannten würde sie nichts sagen können. Und ihrem Mann? Sie verabschiedete sich schnell. Sie konnte ein Entsetzen, das ihr die Lippen auseinanderriss, nicht bändigen. Deshalb also? Deshalb?

      Sie floh geradezu aus Urks Stube. Sie stürzte in die Dunkelheit des Berliner Zimmers und lehnte den dunklen Kopf gegen die dunkle Wand. Ja — weil sie sich das nicht sagten, konnten sie nicht miteinander sprechen. Weil sie sich das verschwiegen, mussten sie in ihrer Ehe über beinahe alles schweigen. Lange blieb sie im Dunklen stehen. „Gibt es“, dachte sie angestrengt, „etwas wie Strafe, so kann ich nicht begreifen, dass man mit der Qual eines anderen Wesens bestraft wird.“

      Das ist nun freilich auch nicht so. Man wird, sofern man mit seinem Begreifen nicht über die Ebene von Schuld und Sühne hinauslangt, dort bestraft, wo man sündigt. Der Schöpfer im Geschöpf. Aber wie der Schöpfer ein Produkt ist und ein Selbständiges, so auch das Geschöpf. Das, was man von anderen her ist, ist nur das eine; das, was man von sich selbst her wird, ist das andere. Ein schlechter Trost für den, der im Unglück sitzt. Aber der einzig wirkliche Trost. Die Freiheit ist in deine Hand gelegt!

      Urk war aus dem Weggehen der Frau Bermann natürlich nicht klug geworden. Aber er pflegte so wenig wie möglich über Dinge nachzudenken, die man ihm nicht anvertraute. Es gab genug, es gab zu viel Leute, die den ganzen Einsatz der Kraft verlangten. Man konnte nicht noch Hilfe aufdrängen.

      Genug Leute, die Urks Hilfe brauchten? Auf diesem Umweg kehrte er zu sich selbst zurück. Merkwürdig: drei Jahre eines Landlebens und nun schon wieder ein halbes Jahr lähmender Untätigkeit.


Скачать книгу