Erziehung zur Mannhaftigkeit. Gurlitt Ludwig

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Erziehung zur Mannhaftigkeit - Gurlitt Ludwig


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      »Gewiß, wir zeigen es ihr, wir geben ihr auch gerne einen Einblick in Ihre Schriften, Herr Professor. So las ich jüngst in einem ›Lesebuche für die höheren Schulen Deutschlands‹ von Dr. Alfred Puls, in Gotha bei E. F. Thienemann herausgegeben, Auszüge aus Ihren Werken: »Erinnerungen aus dem äußeren Leben« und »Schriften für und an seine lieben Deutschen« und darin gerade auch Ihre Würdigung des Freiherrn vom Stein.«

      »Gut, gut! Das freut mich von Herzen – aber:

      Warum denn überhaupt bei uns Alten anfragen? Haben Sie denn inzwischen in Deutschland gar keine Männer erlebt, die Ihrer Jugend als Vorbild dienen könnten? Ich meine eben gerade für die Mannhaftigkeit als Vorbild? Zeitgenossen, Männer, die Ihre politischen und sozialen, kurz alle Ihre kulturellen Verhältnisse selbst kannten und umgestalten halfen? Das wäre doch das Wichtigste!«

      »Ach ja, mein Herr, gewiß, Zum Beispiel den Bismarck.«

      »Wie heißt der?«

      »Fürst Otto von Bismarck, Gründer des neuen Deutschen Reiches und dessen erster Kanzler.«

      »So? O, herrlich! Na, erzählen Sie mal!«

      Ich möchte nicht dahin verstanden werden, als glaubte ich, wir könnten ganz auf die Lebenserfahrungen und die pädagogische Weisheit früherer Geschlechter verzichten. Ich bin im Gegenteil der Meinung, daß es auf unserem Gebiete der Erziehung kaum möglich ist, Gedanken zu finden, die nicht vor uns schon gedacht und sorgfältig begründet worden wären. Es hat bei historischen Rückblicken nur den Übelstand, daß sich jeder immer nur das aussucht, was ihm gerade in seine Gedankenkreise paßt, wodurch jetzt alle jene alten Autoritäten kaum noch Gewicht haben.

      Es gibt keinen Menschen, der sich nicht auf Goethe als Kronzeugen beriefe. Da die Erde rund, ein Menschenleben wechselnd und die Gedanken in stetem Flusse sind, so kann es leicht kommen, daß man jemanden, der viel geschrieben hat, immer wieder mit seinen eigenen Worten widerlegt. Ehe eine Zeit für gewisse Gedanken nicht gleichsam reif geworden ist, bleiben sie unverstanden oder doch unbefolgt. Sie brauchen oft ihre hundert Jahre, ehe sie zur Tat werden. So ist es z. B. leicht nachweisbar, daß wir »modernen« Pädagogen zum Teil unbewußt und unbeabsichtigt ganz in Herders Spuren wandeln, also auch in Goethes, der in paedagogicis Herders gelehriger Schüler war. Wer das noch nicht weiß, der lese eine kleine Schrift von Achim von Winterfeld (A. v. Waldberg, »Gesunde Jugenderziehung, Schulreform und Herder als ihr Vorkämpfer«, Leipzig, Felix Dietrich, 1906). Dieser Nachweis ist natürlich nicht neu. Schon der große Germanist und Reformer des deutschen Unterrichts, Dr. Rudolf Hildebrand in Leipzig, war sich seiner Abhängigkeit von Herder bewußt und sagte: »Ich will gleich selbst aussprechen, daß ich keineswegs ganz Neues aufzustellen wähne; doch gewisse Grundgedanken, die in dem wohl noch ziemlich Neuen stecken, durchkämpfen zu helfen, das möchte ich gern,« und weist uns dabei selbst auf Herder, als seinen ersten bedeutsamen Vorgänger hin. Was also Hildebrand und vor ihm Herder für den deutschen Unterricht anstrebten, das deckt sich fast durchaus mit den allermodernsten Wünschen und Vorschlägen »unruhiger Neuerer«.

      Ich will das kurz mit Stellen aus Herder belegen, die auch schon längst Rudolf Dietrich (im »Hildebrand-Heft« S. 504) gesammelt hat:

      Im Jahre 1769 auf seiner »Fahrt aus Riga in die weite Welt« malte sich Herder das »Ideal einer Schule« aus, das er in seinem »Reisejournal« beschrieb. Hier lesen wir über den Sprachunterricht:

      »Alles lebendige Übung. Nur spät, und wenig aufschreiben; aber was aufgeschrieben wird, sei das Lebendigste, Beste, und was am meisten der Ewigkeit des Gedächtnisses würdig ist. So lernt man Grammatik aus der Sprache, nicht Sprache aus der Grammatik. So lernt man Stil aus dem Sprechen, nicht sprechen aus dem künstlichen Stil … So wird's Gang, erst sprechen, d. i. denken, sprechen, d. i. erzählen, sprechen, d. i. bewegen zu lernen … Die Sprache soll nicht aus Grammatik, sondern lebendig gelernt werden: nicht fürs Auge und durchs Auge studiert, sondern fürs Ohr und durchs Ohr gesprochen, ein Gesetz, das nicht zu übertreten ist.«

      Später, 1796, forderte er (in einer Schulrede über die »Ausbildung der Rede und Sprache in Kindern und Jünglingen«): »die Kunst der Rede und Sprache in Kindern und Jünglingen auszubilden müsse ein Hauptgeschäft der Schulen sein … Denn nur durch Reden lernen wir sprechen … Wahrheit, Wahrheit bilde unsern Ausdruck auch im Ton der Stimme … Die Rede hat ein weites Reich von Gegenständen, Gesinnungen, Leidenschaften, Empfindungen, Zuständen der Seele usf., deren Ausdruck sie zu schaffen und auf die mächtigste angenehmste Weise darzustellen hat. Daß sie dieses zu tun vermöge, dazu gehört Übung. Lesen heißt diese Übung; aber ein Lesen mit Verstand und Herz, ein Lesen im Vortrage jeder Art, und neben ihm eigene Komposition und ein lauter lebendiger Vortrag derselben … Dies laute Lesen, auswendige Vortragen bildet nicht nur die Schreibart, sondern es prägt Formen der Gedanken ein und weckt eigene Gedanken; es gibt dem Gemüt Freude, der Phantasie Nahrung, dem Herzen einen Vorschmack großer Gefühle, und erweckt, wenn dies bei uns möglich ist, einen Nationalcharakter.«[3] – Man staunt, daß es beinahe anderthalbhundert Jahre brauchte, ehe so einleuchtende Gedanken anfangen, Gemeingut der Lehrer zu werden!

      Ein zweites Beispiel zum Beweise dafür, daß wir die alten Pädagogen nicht unterschätzen! Der alte Pestalozzi behauptete, daß er während 30 Jahren kein Buch mehr gelesen habe. Jetzt rechnen ihm zwar Gelehrte nach, daß das nicht genau stimme: Er habe doch dann und wann noch gelesen – mag sein. Jedenfalls war er in seinem Denken so selbständig, als ob vor ihm außer etwa Rousseau niemals ein Mensch über Erziehung geschrieben hätte. Er selbst verfuhr also ganz unhistorisch, und deshalb vielleicht kam er auch so weit. Deshalb aber waren ihm die Zünftler auch so gram. Schade, daß sie sich ihm nicht mit Haut und Haar verschrieben. Hätten sie es getan, so wären wir heute mit unserem Erziehungs- und Schulwesen viel weiter. Wir hätten dann den ganzen undeutschen Neuhumanismus nicht erlebt, hätten die jetzt vor allen von Professor P. Natorp in Marburg unter Berufung auf Pestalozzis geniale pädagogischen Lehren und Taten wissenschaftlich sicher begründete »Sozialpädagogik« in Deutschland schon durchgeführt; hätten damit eine einheitliche nationale Schule; brauchten nicht erst wieder da einzusetzen, wo Pestalozzi aufhörte.

      Unser neuester pädagogischer Kurs geht nämlich endlich, endlich unter der Flagge des »nationalen Humanismus« – man sollte dafür lieber mit zwei guten deutschen Worten der »deutschen Bildung« sagen – Der Weg zur deutschen Bildung führte bekanntlich über Palästina, Athen, Sparta und Rom und kehrte dann im großen Bogen wieder zu Pestalozzi zurück – aus jenen Bahnen, die man vor 100 Jahren eben auf Anraten meiner im übrigen auch von mir hochverehrten engeren Herren Kollegen von der klassischen Philologie betreten hatte, nämlich des großen Latinisten Johann August Ernesti (1707–1781) – der Mann soll den ganzen Cicero auswendig gewußt haben, war deshalb der geborene Erzieher der deutschen Jugend –, der nicht minder großen Gräzisten Christian Gottlob Heyne (1729–1812), Friedrich August Wolf (1759–1824) und anderer großer von Lessing und Winckelmann in den sonnigen Süden entführter Geister. Ach, ja: »Man wandelt nicht ungestraft unter Palmen.«

      Dort suchte man echte Humanität, fand auch so was Ähnliches, es erwies sich aber trotz aller erdenklichen Mühe schließlich doch als unbrauchbar für unsern rauhen und grauen Norden. Das einzusehen bedurfte es leider mehr als dreier Menschenalter. Ein witziger Kopf hat einmal gesagt: »In Deutschland braucht man hundert Jahre, etwas Verkehrtes einzuführen; zweihundert Jahre, es wieder abzuschaffen.« Der Mann scheint recht zu haben. – Außerdem hatte man ja zu Hause schon seine bodenständige echte Menschlichkeit und ›Bildung‹ – Pestalozzi selbst hatte dieses Wort erst geprägt –, und das ist eben auf gut deutsch dasselbe, was so gelehrt mit Humanität bezeichnet wird, nur daß man diese heimische Bildung nicht nach Gebühr achtete und trotz Pestalozzis eindringlichen Lehren nicht gehörig pflegte.

      Jetzt also macht man in Deutschland zum zweiten Male die überraschende Entdeckung, daß dem deutschen Volke eine deutsche Erziehung und deutsche Bildung angemessen sei. Es geht uns wirklich wie dem Knaben des Märchens, der in die Fremde zog, um das Glück zu suchen. Die Verirrung liegt aber vielleicht weniger bei den Gründern des Gymnasiums, als bei dessen Ausgestaltern, eben bei jenen »Provisoren alles


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