Take me down under: Melbourne im Blut. Raik Thorstad

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Take me down under: Melbourne im Blut - Raik Thorstad


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hatten Phoenix bereits erzählt, dass Jo eher aus Notwendigkeit als aus Überzeugung ihr Hausdrache war; in erster Linie deshalb, weil Randy Büroarbeiten aus tiefster Seele hasste und sich nur dann damit befasste, wenn man ihn rigoros antrieb.

      Entsprechend hellte seine Miene sich auf, sobald er Phoenix entdeckte – jede Ablenkung war ihm recht. »Was gibt's?«

      »Einen fahrenden Camry, bei dem endlich alle Warnanzeigen aus sind. Und bevor du fragst: Nein, ich habe sie nicht einfach abgeklemmt«, antwortete Phoenix grinsend.

      Randy erwiderte sein Lächeln. »Großartig. Hatte ich nicht zu hoffen gewagt. Ich rufe Mrs. Dixon sofort an. Sie wird erleichtert sein. Stell dich schon mal darauf ein, dass wir morgen mehr selbst gebackenen Kuchen hier stehen haben werden, als wir essen können. Macht sie immer, wenn wir ihr noch mal erspart haben, einen neuen Wagen zu kaufen.«

      Jo schmunzelte. »Wahrscheinlich wird ihr die Karre eines Tages genau deshalb zusammenbrechen: weil sie ihn als Kuchenschwerlasttransporter verwendet. Eine meiner Schwiegertöchter wohnt bei ihr in der Straße und sagt, es vergeht kein Tag, ohne dass eine Springform auf dem Fensterbrett auskühlt.«

      Phoenix hatte nichts gegen Kuchen einzuwenden, egal, ob er einer Massenproduktion entsprang. Sein Speiseplan war derzeit etwas dürftig. Teils, weil der von Randy angekündigte Kühlschrank doch nicht funktioniert hatte, teils, weil Phoenix zu faul war, um sich in der Personalküche etwas zu kochen, und zu geizig, um auswärts zu essen. »Solange sie die Rechnung nicht auch in Naturalien begleichen will, kann ich damit leben.«

      »Na, das fehlte uns noch«, stöhnte Josephine, zwinkerte ihm jedoch zu. »Wo wir gerade dabei sind, Chef…«

      Randys Lächeln erlosch wie eine Kerze unter Feuerlöschschaum. »Ja, ich weiß. Zu viele Außenstände, zu viele Kunden mit niedrigen Ratenzahlungen.«

      Phoenix zog sich eilends zurück. Von Geld und ausstehenden Rechnungen wollte er nichts hören. Er war schon halb den Flur hinunter, als Randys Stimme hinter ihm her donnerte: »Ach, Kleiner?«

      Er blieb stehen, den Blick auf die Wand mit alten Nummernschildern aus aller Welt gerichtet. »Ja?«

      »Mach mal Feierabend! Wenn du weiter so viele Überstunden kloppst, bin ich in einer Woche pleite!«

      Phoenix seufzte. »In Ordnung.« Er hätte lieber diskutiert oder geflucht. Es gab mehr als genug Arbeit, um Überstunden zu rechtfertigen, und natürlich würde Randy nicht Pleite machen, wenn Phoenix weitere Stunden einbuchte. Immerhin kam mit zusätzlicher Arbeit auch mehr Geld ins Haus. Randy wollte einfach verhindern, dass Phoenix vierzehn Stunden am Tag malochte. Wahrscheinlich hätte er sich mies gefühlt, dabei zuzusehen, wie der Sohn eines alten Freunds sich den Rücken krumm arbeitete.

      Letztendlich war es dieser Gedanke, der Phoenix widerwillig nachgeben ließ. Er rief den Kollegen zu, dass er für heute fertig sei, dann ging er langsam hinauf in seine Unterkunft. Dort hatte sich im Verlauf seiner ersten Woche in Melbourne-Altona nicht viel verändert. Er hatte lediglich seine Koffer auf den Schrank gelegt und in einer Ecke stand nun ein altes Regal, in dem er ein paar Lebensmittel verstaut hatte. Darüber hinaus war alles beim Alten geblieben.

      Vermutlich war es ein Fehler, nicht für ein Mindestmaß an Gemütlichkeit zu sorgen. Sich keine Topfpflanze aufs Fensterbrett zu stellen und sich keines der zahlreichen Poster von ihren Zuliefererfirmen an die Wand zu pinnen. Aber irgendwie war Phoenix noch nicht so weit. Dies war nicht sein Zuhause. Es war eine Bleibe, nicht besser als ein Motelzimmer, und die gestaltete man schließlich auch nicht um.

      Er duschte, schrubbte sich den Schmutz von den Fingernägeln und ließ sich gerade so viel Zeit, wie es ihm der Warmwasserboiler erlaubte. Anschließend rasierte er sich übertrieben gründlich, schlüpfte in frische Kleidung und dann…

      … stand er da. Mitten im Zimmer. Mit leerem Magen und noch leererem Kopf. Ohne eine Aufgabe, ohne einen Plan, wie er den Abend verbringen könnte. Ohne etwas, worauf er sich freuen konnte oder das ihm das Gefühl gab, ein Ziel zu haben.

      All die Überlegungen, Sorgen, Schuldgefühle, die ihm die Werkstatt zuverlässig nahm, kehrten mit einem Schlag zurück. Er stand nicht länger auf fleckigem Linoleum, sondern schwamm in einem Meer, das ihn zu verschlingen drohte. Ob es jenseits der brachialen grauen Wellen Land gab, wusste er nicht. Er wusste nicht einmal, ob es Nacht war oder ob der Sturm einfach die Sonne verschluckt hatte.

      Phoenix kniff die Augen zusammen. Das Wanken war nicht echt. Sein Kreislauf war stabil, das Gebäude erst recht. Das Gefühl niederschmetternder Haltlosigkeit existierte einzig in seinem Kopf. Niemand mehr, der von ihm abhängig war. Niemand, der ihm Kleinigkeiten wie Wäschewaschen oder Fensterputzen abnahm. Niemand, der zu ihm aufsah.

      Und all das war eine Erleichterung, denn es bedeutete, dass er auch niemanden mehr ins Unglück reißen konnte. Aber Gott, sein altes Leben fehlte ihm. Sydney. Die vertrauten Kreise. Die Sorglosigkeit. Sogar die Notwendigkeit, für andere Entscheidungen zu fällen, selbst wenn sie ihn dafür hassten.

      Ich kann das nicht, ging ihm auf. Ich kann hier nicht sitzen und darauf warten, dass es Zeit zum Schlafengehen ist. Ich muss irgendetwas tun.

      Er entschied sich so schnell, dass Zweifel und Gewissenhaftigkeit keine Zeit hatten, ihre Argumente vorzutragen. Er schnappte sich seine gefütterte Jeansjacke, steckte die Autoschlüssel ein und ging nach kurzem Zögern an das Bargeld, das er in einer Blechkiste mit doppelseitigem Klebeband an die Unterseite seines Schranks gepappt hatte.

      Zwei Minuten später fuhr er vom Hof. Das Verdeck des Spitfire war offen, obwohl es erst Ende August war. Phoenix ärgerte sich jetzt schon über das verschwendete Benzin, aber er trat dennoch das Gaspedal durch und schoss mit quietschenden Reifen davon.

      ***

      Der Wind peitschte über das Wasser und trieb es über die übliche Uferlinie hinaus ins Naturschutzgebiet. An manchen Stellen waren die Wege überschwemmt und unter dem ständigen Angriff der Feuchtigkeit matschig geworden.

      Phoenix war nicht weit gekommen. Sein erster Impuls war gewesen, nach Melbourne in die City zu fahren, vielleicht zu den Docklands, dorthin, wo das Leben tobte. Aber dann hatte er sich umentschieden. Ihm war nicht danach, vom Riesenrad aus über die Stadt zu blicken oder den Pinguinen bei St. Kilda dabei zuzusehen, wie sie an Land gewatschelt kamen. Also war er noch vor Williamstown rechts abgebogen und befand sich nun westlich der Stadt; dort, wo man Fauna und Flora etwas Platz zur Entfaltung gelassen hatte.

      Es war eine gute Entscheidung gewesen. Phoenix sah die fernen Lichter von Williamstown und wusste, dass sich dahinter ein paar der beliebtesten Strandabschnitte Melbournes verbargen. Aber ihm war nicht nach Menschen zumute. Die wenigen Spaziergänger und Jogger, mit denen er sich die Dämmerung im Naturschutzgebiet teilte, reichten ihm.

      Der Südwind strich ihm über die glatt rasierte Wange. Die Brise vom Meer war bissig, aber nicht angriffslustig, und sie schmeckte bereits nach dem kommenden Frühling. Phoenix nahm sich vor, an einem der ersten warmen Abende hierher zurückzukommen, aufs Wasser zu blicken, vielleicht ein Eis zu essen und den Wandel willkommen zu heißen.

      Es war falsch zu glauben, dass der Frühling stets etwas Neues mit sich brachte, dass aller Kummer und alle Sorgen vom übersprudelnden Erwachen der Natur fortgespült wurden. Schon Lady Macbeth hatte feststellen müssen, dass man Blut nicht abwaschen konnte.

      Aber Phoenix hatte jedes Mal das Gefühl, dass der Frühling etwas mit ihm anstellte, ihn mit neuer Energie versorgte und ihm zuraunte, dass jetzt, genau jetzt der rechte Zeitpunkt sei, um etwas zu bewegen. Hoffentlich würde er dieses Jahr seine geflüsterten Versprechen halten. Es musste sich dringend etwas tun. Phoenix musste sich bewegen.

      Fröstelnd stellte er den Kragen seiner Jacke auf und zog den Kopf zwischen die Schultern. So schön das Naturschutzgebiet mit seinen Freiflächen, dem niedrigen Uferbewuchs und dem allgegenwärtigen Plätschern der Wellen war, Phoenix war für einen längeren Spaziergang nicht richtig angezogen.

      Er verbuchte seinen Ausflug dennoch als Erfolg. Immerhin kannte er nun nicht nur die Werkstatt, einen Supermarkt und einen Friseur in seiner neuen Wahlheimat, sondern auch einen Ort, an dem man in der


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