Römische Geschichte. Livius Titus
Читать онлайн книгу.Rede dazu und rief schon am Eingang des Rathauses laut: Tarquinius, was soll das heißen? Wie kannst du dich erkühnen, bei meinen Lebzeiten die Väter zu berufen oder auf meinem Stuhl zu sitzen? 2 Als jener trotzig erwiderte, er behaupte den Sitz seines Vaters als Thronerbe, der als Königssohn weit gerechtere Ansprüche darauf als ein Sklave habe; lange genug habe dieser seine Herren verhöhnt, ohne dass man seiner Frechheit habe beikommen können – erhoben die Anhänger beider Parteien ein Geschrei, das Volk lief zum Rathaus, und man sah vorher, die Krone würde dem zuteil werden, der den Platz behauptete. 3 Da fasste Tarquinius, der jetzt selbst aus Not das Äußerste wagen musste, an Jugend und Stärke dem Servius weit überlegen, ihn in der Mitte, trug ihn zum Rathaus hinaus und warf ihn die Treppe hinab auf die untersten Stufen. Dann ging er ins Rathaus zurück, um den Senat zusammenzuhalten. 4 Die Diener und Begleiter des Königs ergriffen die Flucht. Er selbst, da er fast halbtot sich nach Hause zurückbegab, wird von den abgeschickten Dienern des Tarquinius auf der Flucht eingeholt und ermordet. 5 Dass Tullia ihren Mann zu dieser Tat angetrieben habe, glauben viele, weil sie so ganz zu ihrem übrigen Frevel passt. Dies wenigstens weiß man gewiss, dass sie in ihrem Prachtwagen auf den Markt gefahren kam, und ohne die Versammlung von Männern zu scheuen, ihren Mann aus dem Rathaus rief, und die Erste war, die ihn mit der Anrede »König« begrüßte. 6 Als sie nun von diesem aufgefordert, sich aus einem so großen Getümmel zu entfernen, auf ihrem Rückweg nach Hause an das Ende der Cyprischen Straße kam, wo neulich noch der Dianatempel stand, und den Wagen, um auf den Esquilin zu fahren, rechts auf die Urbische Höhe einlenken hieß, wollte der Kutscher vor Schrecken nicht weiter, hielt die Zügel an und zeigte seiner Gebieterin den Servius, der ermordet im Wege lag. 7 Hier wird die scheußliche und unmenschliche Tat gemeldet, deren Denkmal noch jetzt der Name der Gasse ist – sie heißt die Frevelgasse –, wo Tullia, so erzählt man, von Sinnen und von den Rachegöttinnen des an Mann und Schwester verübten Mordes gejagt, mit ihrem Gespann über ihres Vaters Leiche fuhr und an den blutigen Rädern, ja selbst als die Bespritzte voll Flecken ihren Anteil an Blut und Vatermord zu ihren und ihres Mannes Hausgöttern hineintrug, bei deren Zorn sie sich von einem so schlechten Regierungsantritt demnächst einen ebenso schlechten Ausgang versprechen mussten.
8 Servius Tullius hat 44 Jahre regiert und zwar so, dass selbst einem guten und gemäßigten Thronfolger die Nacheiferung schwer geworden wäre. Seinen Ruhm erhöht auch das noch, dass seine Regierung die letzte gerechte und gesetzmäßige [eines Königs] war. 9 Und selbst diese, so milde und gemäßigt sie war, wollte er dennoch, wie einige Geschichtsschreiber berichten, bloß weil sie Alleinherrschaft war, niederlegen, hätte ihn nicht an der Ausführung des Planes, sein Vaterland zu befreien, die verruchte Tat der Seinigen gehindert.
(49) Von nun an regierte Lucius Tarquinius, dem seine Taten den Beinamen Superbus (»der Stolze«) gegeben haben. Denn er, der Schwiegersohn, versagte seinem Schwiegervater die Bestattung, indem er sagte, auch Romulus sei ohne Begräbnis gestorben. 2 Die ersten Senatoren, die seiner Meinung nach Anhänger des Servius waren, ließ er umbringen. Ferner, weil er sich dessen bewusst war, dass man von ihm selbst das Beispiel der frevelhaften Thronbesteigung gegen ihn anwenden könne, umgab er seine Person mit Bewaffneten. 3 Denn sein Recht auf den Thron gründete sich bloß auf Gewalt, da er ebenso wenig vom Volk zum König ernannt als von den Vätern bestätigt war. 4 Hierzu kam, dass er seinen Thron, weil er auf die Liebe seiner Untertanen nicht rechnen konnte, durch Furcht sichern musste. Damit diese auf mehrere wirken möchte, hielt er die Untersuchungen auf Leib und Leben ohne Zuziehung anderer für sich allein; 5 und unter diesem Vorwand konnte er hinrichten lassen, verbannen, mit Einziehung der Güter strafen, nicht nur den, der ihm verdächtig oder missfällig war, sondern auch die, bei denen bloß seine Raubsucht sich eine Beute versprach. 6 Da er durch diese Mittel namentlich die Zahl der Senatoren vermindert hatte, beschloss er, niemand wieder in den Senat aufzunehmen, damit der Stand selbst, durch seine geringe Zahl verächtlicher, weniger Unwillen empfände, wenn nichts durch ihn geschähe. 7 Denn er war der erste König, der die von seinen Vorgängern hergebrachte Sitte, den Senat über alles zu befragen, aufhob, den Staat nach den Eingebungen der Seinen regierte; Krieg und Frieden, Verträge und Bündnisse, mit wem es ihm gefiel, durch sich selbst, ohne Genehmigung des Volkes und Senates, einging und abstellte. 8 Hauptsächlich machte er sich das Volk der Latiner zu Freunden, um sich bei seinen Untertanen auch durch auswärtigen Beistand zu sichern, und mit den Vornehmsten unter ihnen knüpfte er nicht bloß Gastrecht, sondern auch Verwandtschaft. 9 Dem Octavius Mamilius zu Tuskulum – er war bei Weitem der Angesehenste unter allen Latinern und, wenn wir der Sage glauben, ein Nachkomme des Odysseus und der Göttin Circe –, diesem Mamilius gab er seine Tochter zur Ehe, und durch diese Ehe gewinnt er viele von dessen Freunden und Verwandten für sich.
(50) Schon hatte Tarquinius auf die Ersten der Latiner großen Einfluss, da bestimmte er einen Tag, auf den sie bei dem Hain der Göttin Ferentina zusammenkommen möchten; er habe mit ihnen gemeinschaftliche Angelegenheiten zu verhandeln. 2 Sie fanden sich zahlreich mit Tagesanbruch ein. Tarquinius selbst beobachtete zwar den Tag, kam aber erst kurz vor Sonnenuntergang. In den Unterredungen der Versammlung den ganzen Tag über wurde mancherlei zur Sprache gebracht. 3 Turnus Herdonius von Aricia hatte sich gegen den ausbleibenden Tarquinius sehr heftig ausgelassen. Es sei kein Wunder, sagte er, dass man ihn zu Rom den Beinamen »der Stolze« gegeben habe, denn schon nannten sie ihn so, unter sich und ohne laut zu werden, allgemein. Ob es wohl etwas Stolzeres gebe, als so mit allem, was Latiner heiße, seinen Spott zu treiben? 4 Die Ersten des Volkes habe er weit von ihrer Heimat herkommen lassen, und er selbst, der die Versammlung angesetzt habe, sei nicht da. Es sei nichts anderes als der Versuch, wie viel sie sich gefallen lassen würden, um sie dann, wenn sie sich unter sein Joch gebeugt hätten, ihre Unterwürfigkeit fühlen zu lassen. Wem sei das nicht einleuchtend, dass er nach der Herrschaft über Latium trachte? 5 Hätten seine Untertanen wohl daran getan, ihm die Regierung über sich anzuvertrauen – wenn das anvertraut zu nennen sei, und nicht vielmehr durch Vatermord an sich gerissen –, so würden sie ihm auch die Latiner, und auch so nicht einmal als einem Ausländer, anzuvertrauen haben. 6 Wenn es aber die Seinen reute, weil ja einer nach dem anderen hingerichtet würde, möchten sie ins Exil gehen, ihre Güter verlieren – welche bessere Hoffnung bliebe dann für die Latiner? Wollten sie ihn hören, so müsse jetzt gleich jeder nach Hause gehen und den Tag der Zusammenkunft ebenso wenig beachten als ihn der beachte, der ihn angesetzt habe. 7 Während der aufrührerische und lasterhafte Mensch, der eben durch diese Eigenschaften Macht daheim sich erworben hatte, dies und anderes dahin Gehörige erörterte, kam Tarquinius, 8 und die Rede hatte ein Ende. Alle wandten sich zu Tarquinius, ihn zu empfangen. Und er, von den Nächststehenden darauf aufmerksam gemacht, dass er sich seiner Verspätung wegen zu entschuldigen habe, gebot Stille und sagte, Vater und Sohn hätten ihn zum Schiedsrichter gewählt; unter der Bemühung, sie auszusöhnen, habe er sich verspätet, und weil darüber der Tag verstrichen sei, wolle er die bestimmte Sache morgen vornehmen. 9 Auch dies ließ ihm Turnus, wie erzählt wird, nicht ohne Anmerkung hingehen. Keine Untersuchung, sagte er, sei kürzer als zwischen Vater und Sohn und könne mit wenig Worten abgetan werden. Da heiße es: Bist du nicht gleich deinem Vater gehorsam, dann wehe dir!
(51) Unter diesen Scheltworten gegen den König verließ Turnus die Versammlung. Aber Tarquinius, dadurch viel schwerer beleidigt als er merken ließ, legte es sogleich auf den Untergang des Mannes an, auch um den Schrecken, womit er zu Hause den Mut seiner Untertanen gebeugt hatte, den Latinern einzuflößen; 2 und weil es hier nicht anging, ihn geradezu vermittels Befehls hinrichten zu lassen, stürzte er den Schuldlosen durch eine ersonnene Verleumdung. Durch einige Ariciner von der Gegenpartei des Turnus bestach er einen von dessen Sklaven, es geschehen zu lassen, dass man in das Absteigequartier seines Herrn eine Menge Schwerter hineinschaffe. 3 Als dies alles in der einen Nacht bewerkstelligt war, ließ Tarquinius kurz vor Tagesanbruch die vornehmsten Latiner zu sich bitten, und dem Anscheine nach über einen unerhörten Vorfall noch außer Fassung, sagte er: Seinem gestrigen, er möchte sagen, durch eine göttliche Vorsehung herbeigeführten Verzuge, hätten er und sie ihre Rettung zu verdanken. 4 Man habe ihm angezeigt, Turnus sei bereit, ihn und die Ersten der sämtlichen Völkerschaften zu ermorden, um Latium allein zu regieren. Gestern in der Versammlung würde er angegriffen haben, die Sache sei aber verschoben worden, weil er, der sie berufen habe, und auf den es am meisten abgesehen sei, gefehlt habe. 5 Darum habe er auf ihn, den Abwesenden, die Ausfälle getan, weil er ihm durch dies Säumen den Entwurf vereitelt habe. Wenn jene Angabe wahr sei,