Carl Maria von Weber in seiner Zeit. Christoph Schwandt
Читать онлайн книгу.Gottfried Hientzsch festgehalten. Nach Berners Tod und zu einer Zeit, als auch Weber schon verstorben war. Dass der berühmte Freischütz-Komponist sein Leben einem Freund zu verdanken hatte, gab wohl eine schöne Legende her. Aus dem Vitriol-Medikament des Vaters, das zur äußerlich desinfizierenden Anwendung gedacht gewesen sein muss, wurde bei weiteren Nachwelt-Autoren sogar Salpetersäure, was die Episode noch unglaubwürdiger macht, denn ein solches Versehen hätte schlimmere Auswirkungen gehabt, wenn sie denn jemand trotz ihres üblen Geruchs überhaupt bis an die Lippen geführt hätte. Die Säureflasche, so hieß es, hätte Franz Anton wegen seiner litografischen Experimente in der Wohnung gehabt, von denen er in der Breslauer Zeit längst abgelassen hatte. Es ist nicht einmal klar, ob er in Breslau überhaupt mit Carl Maria unter einem Dach lebte. Denn der Sohn wohnte in der theaternahen Taschengasse, der Vater gab jedoch in seiner Korrespondenz die Ohlauer Gasse als Adresse an.68 Ein besonders nachhaltiger Fortspinner der Legende sah in dem Unfall gar »ein Ereignis, das man als Suizidversuch werten kann«69. Vielleicht hatte der junge Musikdirektor an jenem Abend einfach nur einen über den Durst getrunken. Tenor Julius Miller, der unter anderem den Titus sang, erinnerte sich denn auch an ausgelassene Zusammenkünfte mit Weber in einem musikalischen Freundesund Kollegenkreis, zu dem auch Berner gehörte. Man traf sich wöchentlich, musizierte, improvisierte, phantasierte und diskutierte: »Zum Schluß wurde voltigirt. Im Saale befand sich ein großes ledernes Pferd … Es war um sich todt zu lachen, wenn der lahme Weber in bloßen Hemdsärmeln angehinkt kam und von hinten auf das Pferd sprang. Nach diesem kam der Ungar-Wein und die Anekdoten begannen, was bis tief in die Nacht hinein dauerte.«70
Rübezahl, der Waldgeist aus dem Riesengebirge, war seit dem Ende des 18. Jahrhunderts als sagenhafte Identifikationsfigur eines romantischen Heimatgefühls in das Bewusstsein vor allem der deutschsprachigen Schlesier gerückt, von denen ein kleinerer Teil im gleichnamigen österreichischen Kronland lebte. Den nachhaltigsten Beitrag zur Rübezahl-Renaissance hatte Johann K. A. Musäus in den 1780er Jahren in seinen Volksmährchen der Deutschen geleistet. Zahlreiche Theaterstücke, auch von Musäus’ Neffen Kotzebue, folgten, wie auch Singspiele und Opern, zum Beispiel von Vogler und von Vincenz Tuczek, dessen Werk 1801 in Breslau uraufgeführt worden war. Den Text hatte der Breslauer Beamte und Schriftsteller Samuel Gottlieb Bürde geschrieben; Vogler verwendete dasselbe Libretto. Im Frühjahr 1803 war Tuczeks Oper in Wien sogar an Schikaneders Haus gespielt worden – unter dem Titel Typhon, der originale klang wohl zu provinziell –, aber nicht mehr, als Weber in der Stadt war.
Johann Gottlieb Rhode muss die Idee einer Rübezahl-Oper gleich zu Beginn der Zusammenarbeit mit Carl Maria von Weber ins Gespräch gebracht und ihm den selbstverfassten Operntext gegeben haben, der sich an Bürdes Vorbild hielt. Der Titelheld ist nicht nur manchmal guter, manchmal böser Geist, sondern auch – letztlich abgewiesener – Liebhaber einer Prinzessin. »Rübezahl tritt als ein schöner idealisch gekleideter Jüngling auf«71, heißt es bei Rhode, also nicht als furchterregender Waldschrat wie in späteren Kinderbüchern. Aber auch nach anderthalb Jahren war noch nicht viel von der Oper fertig geworden; vielleicht hatte Weber etwas mehr als die auf die Nachwelt gekommenen vollständigen Musiknummern – Ouvertüre, ein Quintett und ein a-cappella-»Geisterchor« – komponiert, aber wohl nicht »die Oper ›Rübezahl‹ von Prof. Rhode größtenteils«72, wie er in der Autobiographischen Skizze glauben macht. Ein singspielhaft tänzerisches Baritonlied des Kurt mit Rezitativ und Gnomen-Chor ist lückenhaft auch noch erhalten. In dem Quintett werden drei von der Prinzessin gepflanzte Rüben von Rübezahl mithilfe seines Stabes in Klärchen, Kunigunde und Elisabeth, ihre verwunschenen Gefährtinnen, (zurück-)verwandelt. Es ist ein schon deshalb sehr reizvolles Ensemble, weil es vier helle Soprane mit einer tiefen Bassstimme zusammenführt, und man erkennt im Vergleich zu Peter Schmoll praktische Erfahrungen des Theaterkapellmeisters. Die Ouvertüre (in ihrer damaligen Erstfassung) und den Chor präsentierte er am 3. April 1806 im zweiten »Benefiz des Musikdirectors Hrn. v. Weber« und stockte damit sein bescheidenes Grundgehalt ein wenig auf. Neben den Rübezahl-Stücken gab es eine Kantate von Friedrich Ludwig Aemilius Kunzen, einem Lübecker, der in Kopenhagen wirkte, und gemeinsam mit Berner spielte Weber auf zwei Klavieren Mozarts Sonate KV 448. Ein anspruchsvolles Programm, das allerdings mit der von dem inzwischen zum Domkapellmeister avancierten Schnabel geleiteten Schöpfung zu konkurrieren hatte. Die wurde neuerdings an jedem Gründonnerstag aufgeführt und war stets gut besucht, was man Weber bei der Zusicherung, dass er jeweils an diesem Tag sein Benefiz veranstalten könne, verschwiegen hatte. Wohl deshalb war seine Wahl dieses Mal auch auf die Kantate von Kunzen gefallen. Dessen 1797 auf einen dänischen Text komponiertes Halleluja der Schöpfung war ungeachtet des verwandten Haydnschen Werks allenthalben sehr gefragt, sodass 1804 sogar eine gedruckte Partitur der deutschen Fassung erschienen war.
Dann musste aber auch schon wieder ein neues musikalisches Lustspiel vorbereitet werden, das am 3. Mai herauskommen sollte: Les confidences von Nicolas Isouard, unter dem deutschen Titel Die vertrauten Nebenbuhler. Der in Malta geborene, fleißige und geschäftstüchtige Komponist hatte im Februar mit der Opéra comique Die Einnahme von Passau sogar aktuelle Ereignisse der napoleonischen Eroberung für das Pariser Publikum musikalisch unterhaltsam aufbereitet. Eine Woche später dirigierte Weber eine Neueinstudierung der Mädchenrache. So hieß Rhodes deutsche Bearbeitung von Così fan tutte, die, wie andere zeitgenössische Fassungen auch, den Partnertausch in Da Pontes Libretto fürs preußische Provinzpublikum tolerierbar zurechtbog.
Auch für einen hoch motivierten und ebenso talentierten 19-jährigen war das Arbeitspensum – Proben, Dirigieren, neue Partituren lernen, als Pianist Konzertieren –, das Weber in den vergangenen 23 Monaten bewältigt hatte, enorm. Außer dem kleinen Flötenstück und dem Opern-Anlauf hatte er nur ein vierstimmiges Grablied (»Leis wandeln wir im Geisterhauch«), das er schon in Augsburg geschrieben hatte, für die Beerdigung der Mutter von Direktoriumsmitglied Hayn mit einer Begleitung von neun Blasinstrumenten erweitert arrangiert. »Das rein Vierstimmige ist das Nackende in der Tonkunst«, sollte er Jahre später73 formulieren, als er Streichquartette von Friedrich E. Fesca rezensierte. Er wünschte sich Gewand und Faltenwurf für die Musik, und es ist bezeichnend, dass in Breslau mit einem Instrumental-Arrangement von Himmels Fanchon seine einzige – leider verschollene – Komposition für Streichquartett entstand.
In diesen knapp zwei Jahren hatte Carl Maria von Weber, obwohl er noch Debütant am Theater war, große künstlerische Verantwortung zu tragen gehabt. Er hatte die musikalische Qualität der Aufführungen am Haus »Zur Kalten Asche« gesteigert und bei der Auswahl der Opern und Singspiele des Spielplans ambitioniert mitgewirkt. Aber von einem Mann seines Alters konnte man nicht erwarten, dass er sich mit dem, was erreicht war, zufrieden gab. Er hatte in Breslau auch keinen Mentor, der ihm mäßigenden Rat erteilen oder noch etwas beibringen konnte. Das Durchsetzen noch höherer künstlerischer Ansprüche, die er gewiss im Sinn hatte, hätte Geld gekostet, höhere Gagen, höhere Eintrittspreise, höheres Engagement der Aktionäre des Theaters. Rhode hätte seine Kompetenzen kaum guten Gewissens mit ihm teilen können.
Am Samstag, dem 21. Juni 1806, kündigte eine »Concertanzeige« in der Schlesischen privilegierten Zeitung an, dass »im hiesigen Schauspielhause der Musikdirektor Carl Maria von Weber sein Abschieds-Concert geben« werde. Er würde frei auf dem Klavier phantasieren und den namhaften Dresdner Cellisten Calmus bei Variationen von Anton Eberl begleiten, von dem auch ein Klavierkonzert auf dem Programm stand. Der Wiener Komponist hatte ein Jahr zuvor großen Erfolg mit einer Es-Dur-Sinfonie gehabt, die beim Publikum im Theater an der Wien weit besser angekommen war als die ebenfalls bei dieser Gelegenheit erstmals öffentlich gespielte Dritte Beethovens in der gleichen Tonart. Selbstbewusst dirigierte Weber seine Ouvertüre zu Peter Schmoll, nach dem das Programm mit der zu Faniska, einer brandneuen, für Wien geschriebenen, deutschen (!) Oper von Luigi Cherubini, begonnen hatte. Schließlich gab es Voglers Das Lob der Harmonie vom Professor Meissner nach J. J. Rousseau’s Melodie zu drei Tönen und noch etwas von Joseph Weigl und Winter! War sein Einstand im Juli des vorvergangenen Jahres eher beiläufig gewesen,
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Vgl. Frank Ziegler:
69
Dieter Kerner:
70
Frank Ziegler:
71
Zit. nach der Publikation der Fragmente in der »Alten Gesamtausgabe« (1928) Band II/2, S. VII.
72
Carl Maria von Weber:
73