Die schönsten Pferdegeschichten. Lise Gast

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Die schönsten Pferdegeschichten - Lise Gast


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den Großmuttersessel. „Das ist Anja, meine allerbeste Freundin. Und das ist die Täubin, die Mutter von unserem verehrten und gefürchteten Reitlehrer. Er war übrigens heute recht sanft und milde, sanft wie sein Name, wahrscheinlich, um Anja nicht zu vergrämen. Sie hatte ihre erste Voltigierstunde, da können Sie sich ja vorstellen, wie ihr zumute war.“

      „Das kann ich.“ Frau Taube nickte, legte ihr Strickzeug aufs Fensterbrett und streckte Anja die Hand entgegen. „Wie nett, daß ihr mich besucht! Du willst also reiten lernen?“

      „Ja. Furchtbar gern. Am allerliebsten von allem“, sagte Anja. Sie war kein bißchen verlegen.

      „Du hattest heute die erste Stunde? Da bist du bestimmt furchtbar durstig. Petra –“

      „Ich weiß, ich weiß! Himbeere oder Zitrone?“ fragte Petra eifrig, die inzwischen in einem Eck des Zimmers ein Schränkchen aufgemacht hatte. „Hier, beides da, was soll ich bringen?“

      „Was möchtest du, Anja?“ fragte Frau Taube.

      „Zitrone bitte, wenn ich darf. Die löscht besser“, sagte Anja. Ihr klebte die Zunge am Gaumen.

      „So, hier.“ Petra stellte ein großes Glas vor Anja auf den Tisch, der neben dem Lehnstuhl stand. „Und Sie bekommen Kaffee, Frau Taube, nicht wahr? Sie möchten doch immer Kaffee.“

      „Ja, bitte. Schon allein wegen des Duftes. Weißt du, Petra, daß jeder Monat bei mir einen bestimmten Duft hat? Der Februar zum Beispiel, den wir jetzt haben, duftet nach Hyazinthen und Bohnenkaffee, und die Sonne muß draußen auf den Schnee, der auf dem Fensterbrett liegt, scheinen, so wie jetzt …“

      „Und sonst? Wie riecht der März?“ fragte Anja – sie hatte im März Geburtstag –, nachdem sie nach einem langen Zug das Glas geleert und abgestellt hatte.

      „Was für eine Frage! Nach Veilchen! Der März ist doch der Monat der allerersten Blumen, und das sind, nach den Schneeglöckchen, die Veilchen.“

      „Und zum Juni gehören die Rosen!“ rief Petra aus ihrer Kochecke heraus. „Im Juni hab’ ich Geburtstag. Ich bin ein Junikäfer!“

      „Haben wirklich alle Monate einen Duft?“ fragte Anja jetzt ein wenig zweifelnd. „Der Dezember riecht bestimmt nach Kerzen und bitterem Tannenduft und Pfefferkuchen und Gutseln. Aber zum Beispiel der November?“

      „Der hat auch einen ganz bestimmten Duft“, sagte Frau Taube und lachte. „Der November – weißt du, daß ich den ganz besonders liebe? Weil ihn sonst niemand leiden kann, den armen. Dabei kann er wunderschön sein, geheimnisvoll mit Nebel und gegen Ende mit dem ersten Schnee, auf den man sich ja immer so freut. Aber vorher, von Anfang an, da riecht er nach –“

      „Nach?“ fragten beide Mädchen wie aus einem Mund, als Frau Taube innehielt.

      „Nach neugestrichenem Ofenrohr“, sagte sie und lachte über die verblüfften Gesichter der beiden. „Man streicht doch im Herbst die Ofenrohre neu mit Silberfarbe, und wenn man dann das erstemal heizt, riecht, richtiger: stinkt es danach. Ganz unvergeßlich!“

      „Wirklich?“ fragte Petra ein wenig schüchtern, die in einem Haus mit Zentralheizung aufgewachsen war. Vielleicht machte Frau Taube nur Spaß.

      „Wirklich! Und nach Zusammenrücken und Gemütlichsein und Einanderliebhaben“, sagte diese ganz leise und ernsthaft. „Ich hatte eine Tante, die sagte an einem der ersten Tage mit garstigem Wetter immer: ‚Kinder, die schlechte Jahreszeit kommt, wir wollen einander noch lieber haben.‘ Das hab’ ich nie vergessen.“

      „Das ist auch schön“, sagte Petra nach einem Augenblick des Schweigens. „Das gefällt mir. Und ich will es auch nicht vergessen.“

      „Und der Oktober riecht nach Herbstlaub, nach Jagden über gemähte Wiesen und Stoppelfelder.“

      „Hach ja, wunderbar! Vielleicht reite ich im Herbst eine Jagd mit“, sagte Petra.

      Frau Taube sah sie an.

      „Ich wünsch’ es dir. Ich bin viele Jagden geritten.“

      „Ja? Haben Sie auch –“

      „Den Fuchsschwanz erwischt? Siebenmal!“ Frau Taube nickte und deutete zum Kopfende ihrer Schlafcouch hin. „Dort hängen sie und auch die Brüche. Man bekommt doch bei jeder Jagd einen Bruch, den hebt man sich auf. Seht euch nur alles an, auf den Schleifen steht, wann es war und welche Jagden es waren. Dort eine Waldjagd, und da eine mit Meute …“

      „Mit Meute?“ fragte Anja.

      „Ja, man nennt das so, wenn Hunde voranlaufen. Braungefleckte Hunde, immer zwei und zwei zusammengekoppelt. Das alles wirst du noch erleben. Das alles wartet auf dich. Freust du dich?“

      „O ja! Aber –“

      „Was denn, aber?“ fragte Frau Taube.

      „Weil Sie jetzt –“ Anja sprach nicht weiter. Frau Taube schien auch so zu verstehen, und sie nickte.

      „Du meinst – nun ja. Alles zu seiner Zeit. Ich erzähl’ dir später davon, wenn es einmal paßt. Heute erzählt lieber ihr mir etwas! Wollt ihr?“

      „Anja ist raufgekommen auf die Rosina, gleich beim erstenmal!“ sagte Petra eifrig, hob den Wasserkessel und goß den Kaffee auf, so daß es wunderbar bitter duftete. „Sie ist in den Weihnachtsferien das erstemal geritten. Draußen, im Gelände. Bei Bekannten. Und in der ersten Voltigierstunde kam sie sofort rauf.“

      „Das ist gut. Mit Voltigieren fängt es an. Mit Voltigieren und Runterpurzeln und wieder Aufstehen und von neuem probieren …“

      „Kann sie gar nicht mehr laufen?“ fragte Anja, als sie sich verabschiedet hatten und miteinander die steile Treppe hinunterstiegen. Petra sah sich um.

      „Frau Taube? Doch, etwas. Aber nur sehr mühsam … Es war übrigens kein Sturz vom Pferd, sondern ein Autounfall, glaub’ ich. Aber sie ist vorher viel geritten und läßt sich überhaupt nichts anmerken. Das ist doch großartig. Tapfer sein, ohne es zu zeigen, das ist, meine ich, die allergrößte Tapferkeit. Und sie würde so gern wenigstens jeden Tag Pferde sehen, hat Toni mir mal gesagt. Dort oben wohnt sie, weil sie vom Fenster aus in den Sprunggarten gucken kann. Im Sommer, wenn die Sprungabteilung dran ist, kann sie zuschauen, und bei den Turnieren auch. Nur sind die eben nur einmal im Jahr, und das ist ein bißchen wenig. Aber im Sommer, wenn wir in der Abteilung draußen reiten, ist sie immer sehr glücklich. Und sie kann in ihrer kleinen Wohnung wenigstens ein bißchen riechen, wie eben Stall und Halle riechen. Sie kennt jedes Pferd beim Namen, weiß alle Eigenschaften, kennt alle Reitschüler. Ich mag Frau Taube sehr gern.“

      „Oh, ich auch. Wir wollen sie immer besuchen, wenn wir hier sind“, sagte Anja. „Gut, daß du mich mit hergenommen hast. Viele wissen sicherlich gar nicht, daß sie dort wohnt, oder?“

      „Nein, der Reitlehrer erzählt es niemandem. Sie will nicht bedauert werden. Ich hab’ es auch nur durch Zufall erfahren. Aber ich dachte, du mußt es wissen.“

      „Natürlich! Und wenn du einmal keine. Zeit hast, kümmere ich mich um sie.“

      „Dann ist da noch was“, erzählte Petra, als sie miteinander zum Stall hinübergingen. „Sie hat auch eine Tochter, die reitet. Die ist aber von ihr weggegangen, im bösen, verstehst du. Nach einem Streit. Frau Taube hat es mir einmal erzählt, als ich zu ihr kam und merkte, daß sie geweint hatte. Ich tat natürlich so, als ob ich nichts gesehen hätte. Aber sie fing von selbst davon an. Daß sie sich mit der Tochter zerstritten hat, weil sie ihr nicht erlauben wollte, eine Military mitzureiten. Dem Sohn hatte sie es erlaubt, oder vielmehr, er tat es einfach. Aber bei der Tochter hat sie nein gesagt und deren Nennung zurückgezogen. Die war damals noch nicht achtzehn. Weißt du, eine Military ist ein ganz schwerer und gefährlicher Geländeritt. Und da ist die Tochter abgehauen.“

      „Für immer?“ fragte Anja bang.

      Petra zuckte die Achseln.

      „Weiß man’s? Jedenfalls im Zorn. Weg, nicht wiedergekommen.


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