Gesammelte Werke: Historische Romane, Kriminalromane, Erzählungen & Essays. Rudolf Stratz
Читать онлайн книгу.Dem Tode, der eben jetzt wieder als faustgroßer Bruchstein da vorn in Sätzen über den Eishang dahinsprang.
Ihr war es, als ob sogar der alte Zum Brunnen sie wohlwollend ansähe, während er ihr einen Schluck mit Wasser verdünnten Kognak reichte.
»Kommt noch so ein Eishang?« fragte sie mit innerlichem Grauen, als sie die Flasche zurückgab.
Er schüttelte den Kopf, und Wägi sagte: »Jetzt geht's in einem da herunter.«
Dabei wies er direkt vor sich in die Tiefe.
Wo denn herunter ... um Gottes willen? Sie bog sich vor. Da war nichts zu sehen als die beinahe senkrecht abfallende Felswand, nach unten durch lange Nebelstreifen abgeschlossen.
»Sie werden mir doch nicht zumuten, daß ich da herunterfliegen soll?« sagte sie kühl.
Kaspar Wägi grinste: »Dann müssen wir umkehren und wieder über den Eishang zurück! Einen andern Weg gibt's nicht.«
Nein wahrhaftig. Ringsum stark aufschießende Felsen und zur Linken die tückische Firnfläche.
Sie ließ sich auf den Boden nieder und starrte vor sich hin. Eine nette Lage! Zum erstenmal erfaßte sie die Reue. Was hatte sie denn nur hier oben zu suchen in dieser abscheulichen Wüste, die ... Der Wägi kniete neben ihr nieder und untersuchte den Knoten, der das Seil unter ihren Armen verknüpfte.
»Da hat's jetzt gar keine Gefahr!« sagte er in seinem rauhen Bernerdeutsch, »... ich steig' voraus und zeig' den Weg, und der Christen hält die Dame am Seil. Der hat schon ganz andre Leute gehalten.«
Damit begann er über den Rand der Felsen zu steigen und verschwand in einem senkrecht hinabführenden Spalt.
Nach einiger Zeit zuckte es am Seil.
»Komm die Dame jetzt!« rief eine Stimme aus der Unterwelt.
Der alte Zum Brunnen trat neben sie und wies hinab.
»Schöne Griffe im Kamin!« murmelte er und deutete auf die Felskanten und Vorsprünge, die sich reichlich in dem Gestein befanden, »... Fuß da ... dann dort ... mit den Händen festhalten ... Stock oben lassen ...«
»Ich werde mir 's Genick brechen!« sagte Elisabeth, setzte sich auf den Rand und suchte tastend mit dem Fuß den ersten Absatz. Wahrhaftig ... auf dem stand sich's ganz gut. Ebenso auf dem zweiten. Und ihre Hände umschlossen mühelos da und dort einen Felsvorsprung im Gestein.
Dabei hatte sie fortwährend das beruhigende Gefühl, als ob sie jemand zwischen den Schulterblättern hielte. Der alte Zum Brunnen hatte sich oben hingekauert, die Füße gegen einen Felsblock gestemmt, und ließ das Seil langsam in scharfer Spannung aus den Händen gleiten, so daß sie stets daran einen Rückhalt fand.
Jetzt war sie schon beinahe unten. Da hörte plötzlich die Welt auf. Keine Zacken mehr, keine Felsvorsprünge, nichts in der acht Fuß hohen Steinrinne, woran man sich hätte halten können.
»Vorwärts!« tönte oben eine heisere Stimme.
»Ja ... wie denn um Gottes willen?«
Wägi stand unten und lachte. »Laß sich die Dame einfach rutschen. Das Seil hält schon!«
Und wahrhaftig ... auch das ging. Ganz gemächlich glitt sie nieder und erfaßte hell auflachend Wägis Hände.
»Das ist großartig!« sagte sie aufgeregt und schaute im Kreis umher.
»Was kommt jetzt?«
Jetzt kamen die »Platten«; Felsenschichten, die sich übereinander türmten und an deren Kanten und Rissen man vorsichtig herabkletterte.
Wenn sie wartend stehenblieb, bis das alle Augenblicke in den Vorsprüngen des Gesteins verfitzte Seil durch einen Schwung wieder freigemacht war, sah sie beinahe unter ihrer Stiefelspitze Kaspar Wäges zerknitterten, mit Edelweiß und einer Spielhahnfeder geschmückten Hut, und dicht über ihrem Kopf scharrten und tasteten die mächtigen Bergschuhe des Alten, der behend und geräuschlos wie ein greiser Affe die senkrechten glatten Wände herabglitt.
Dann verschwand Wägi. Eine Schneerinne, die in Form eines dreieckigen Risses von oben nach unten durch den Bergsturz ging, nahm ihn auf. Sie hörte, wie er am straff um einen Felsen geschlungenen Seil, Stufen schlug und leise fluchte.
»Komm die Dame jetzt!«
Elisabeth lachte auf. Jedes Gefühl der Unruhe war in ihr geschwunden, während sie in die erste der auffallend großen Stufen trat. Die Schrecken der Berge bestanden doch eigentlich mehr in der eigenen Einbildung, nicht in dem, was wirklich ...
Der durchweichte Schnee der dritten Stufe, auf den sie achtlos den Fuß setzte, glitschte schnell und tückisch als nasser Klumpen unter ihr hinweg. Sie trat ins Leere. Ein dumpfer Ausruf des Entsetzens kam aus ihrem Munde.
Aber schon fühlte sie, wie sich das Seil unter ihren Achseln mit schmerzhaftem Ruck zusammenzog und sie in der Schwebe erhielt. Über ihr auf der Felsklippe saß der alte Zum Brunnen und hielt sie fest. Keine Faser an seinen dünnen Spinnenarmen, kein Fältchen des Gesichts zuckte dabei. Nur ein mißbilligendes Brummen, das wie »du chaibi Chrott'!« klang, kam von oben.
Am Stiel der Eisaxt, die ihr Wägi hinhielt, fand sie wieder Halt und erreichte die nächste Stufe. Dort blieb sie stehen. Da war wieder der Tod! Der unscheinbare Ballen Schnee, der wie eine weiße Ratte zwischen den Felsenzacken durchglitt und endlich ermattet in einer Mulde liegenblieb.
Das Gebirge litt keinen Scherz. Sie war blaß und ernst geworden, während sie sich mühsam durch den Rest des schwierigen Schneecouloirs am straffen Seil herabarbeitete und tief aufatmend endlich auf dem Schneefeld unten stand.
Das Seil surrte hinterher, und mit ihm rutschte, Bergstock und Eisaxt in der Hand, Zum Brunnen in rätselhafter Geschwindigkeit denselben Weg herab.
Inzwischen zeigte der zweite Führer der Touristin, wie man es machen müsse, um nach allen Regeln der Kunst über das scharf geneigte Schneefeld vor ihnen »abzufahren«: Den Stock fest nach hinten auf den Boden gepreßt, mit der Rechten draufgedrückt, die Linke weiter unten um das Holz, den Oberkörper weit zurück, die Hacken tief in den Schnee gestemmt – und los!
Der Wind pfiff um ihre Ohren, vor ihr ballte sich in Wirbeln der fliegende Schnee, die Eisenspitze des Stockes knirschte, während es in sausender Fahrt bergab ging, rascher, immer rascher, bis sie den Atem zu verlieren glaubte und im hilflosen Weiterrutschen ein lautes »Halt!« schrie.
Zum Brunnen hinter ihr faßte sie am Genick – wie einen jungen Teckel, dachte sie unwillkürlich in lachender Empörung – und schwenkte sie etwas zur Seite. Die Fahrt verlangsamte sich. Sie standen still und sahen erhitzt und rasch atmend die lange weiße Halde empor, an deren oberem Rande sie beinahe in diesem Augenblick noch gestanden waren.
Im Zickzack ging's jetzt weiter hinab, über weichen Schnee, in dem der Fuß tief einsank und der Körper sich seitlich auf die Eisaxt stützte. Einmal noch ein kurzer Halt. Die Führer prüften, die Pickel vor sich in den Boden stoßend, den Umfang einer Firnspalte, deren Vorhandensein überhaupt zu erkennen für Elisabeth ein Ding der Unmöglichkeit schien. Dann ging es hinüber ... einer vorsichtig in den Fußstapfen des andern ... und weiter bis zu den Schutthügeln des Gletschers im Grunde.
Als sie dort standen, waren der Berg und seine Schrecken überwunden! Das Haupt nach rückwärts gebogen, sah Elisabeth zu der finsteren, senkrecht abstürzenden Höhe hinauf, zu diesem Chaos von schroffen Wänden, von jähen Schneehängen und schwindlig absteigenden Felskaminen.
Daß ein Mensch da herunterkommen könne, schien ihr kaum glaublich. Und daß sie selbst eben dieses Wunder vollbracht, das erfüllte sie mit einem eigenen Gefühl von ruhiger Kraft, mit einer stolzen Daseinsfreude, dergleichen sie noch niemals empfunden.
Wahrlich, dieser Tag heute war wert, gelebt zu werden. Zum erstenmal sah sie hier, im Eis und nebelumzogenen Gestein, was eigene Kraft und eigener Mut bedeutet.
Der Wägi neben ihr räusperte sich und machte eine unschlüssige Bewegung. »Ihre Leute unten