Römische Geschichte. Livius Titus
Читать онлайн книгу.im Sabinerland schickten sie den Lucius Siccius, der bei dem allgemeinen Hass der Dezemvirn insgeheim gegen die gemeinen Soldaten von Tribunenwahl und Auswanderung gesprochen hatte, auf Besichtigung eines zum Lager zu wählenden Platzes aus 3 und gaben den Soldaten, die sie zu seiner Bedeckung mitgehen ließen, den Auftrag, ihn an einem gelegenen Ort zu überfallen und zu ermorden. 4 Er starb nicht ungerächt. Rund um ihn her fielen von seiner Gegenwehr mehrere Meuchelmörder, weil er als ein sehr starker Mann mit einem seiner Stärke angemessenen Mut nach allen Seiten sich verteidigte. 5 Die übrigen gaben im Lager an, sie seien in einen Hinterhalt geraten und Siccius nach tapferer Gegenwehr mit einigen anderen Soldaten gefallen. 6 Anfangs glaubte man ihrer Erzählung. Als aber die mit Erlaubnis der Dezemvirn zur Bestattung der Gefallenen hinzugezogene Kohorte keine einzige Leiche beraubt, den Siccius in der Mitte liegen, noch in seiner Rüstung, und alle Leichen gegen ihn gekehrt sah, von den Feinden hingegen nicht einen Gefallenen und keine Spur ihres Abzuges, da brachten sie seine Leiche mit der Versicherung mit, er sei gewiss von den Seinigen ermordet worden. 7 Das ganze Lager geriet in Erbitterung, und es war schon beschlossen, den Siccius sofort nach Rom zu tragen, hätten sich nicht die Dezemvirn beeilt, ihn mit allen militärischen Ehren auf öffentliche Kosten bestatten zu lassen. Sein Begräbnis setzte die Soldaten in tiefe Trauer und die Dezemvirn allgemein in den schlechtesten Ruf.
(44) Eine Schandtat von ganz anderer Art erfolgte in der Stadt, deren Quelle Wollust und deren Ausgang ebenso scheußlich war wie die Schändung und der gewaltsame Tod der Lucretia, wodurch die Tarquinier aus der Stadt und vom Thron gestoßen wurden, so dass die Dezemvirn nicht allein, so wie die Könige, aufhörten, sondern auch ihre Regierung durch gleiche Veranlassung verloren.
2 Den Appius Claudius kam die Lust an, ein bürgerliches Mädchen zu missbrauchen. Ihr Vater Lucius Verginius stand bei dem Heer am Algidus als einer der Hauptleute von höherem Rang, zu Hause und im Feld ein musterhafter Mann. Ebenso war seine Frau erzogen, und so erzogen sie auch ihre Kinder. 3 Die Tochter hatte er dem gewesenen Tribun Lucius Icilius verlobt, einem unternehmenden Mann und von bewährtem Verdienst um die Partei der Bürgerlichen. 4 Als Appius, der vor Liebe glühend dies erwachsene, außerordentlich schöne Mädchen durch Geschenke und Versprechungen zu verführen suchte, jeden Zugang durch Keuschheit versperrt sah, entschloss er sich zu einer grausamen, alles niedertretenden Gewalttat. Seinem Klienten 5 Marcus Claudius trug er auf, sich des Mädchens als seiner Sklavin zu versichern und nicht nachzugeben, wenn man bis zur Entscheidung ihrer Freiheit Aufschub fordere, da die Abwesenheit des Vaters, wie er hoffte, seine Ungerechtigkeit begünstigte. 6 Als das Mädchen auf den Markt kam – denn dort standen unter den Krambuden auch Schulstuben –, legte der Kuppler des Dezemvirs, indem er sie wie seine Sklavin anredete, da sie eine Tochter seiner Sklavin sei, Hand an sie und befahl ihr, ihm zu folgen; im Weigerungsfall werde er sie mit Gewalt fortführen. 7 Während das Mädchen vor Schrecken starr war, entstand auf das Geschrei ihrer Amme, welche nach Hilfe rief, ein Auflauf. Ihres Vaters Verginius, ihres Bräutigams Icilius beliebter Name wurde laut genannt. Die Bekannten wurden durch die Beliebtheit dieser Männer, die Masse des Volkes durch das Unwürdige der Sache selbst für die Jungfrau gewonnen. 8 Schon war sie vor Gewalt sicher, als der Kläger anfing, das zusammengelaufene Volk sei hier ganz unnötig; er verfahre nach Recht, nicht mit Gewalt. – Er fordere das Mädchen vor Gericht. Da selbst die, welche sich ihrer annahmen, ihr rieten, mitzugehen, so kam man vor den Richterstuhl des Appius. 9 Der Kläger erzählte das dem Richter bekannte Märchen, das er selbst ersonnen hatte. Diese in seinem Haus geborene, ihm gestohlene und dem Verginius ins Haus gebrachte Sklavin sei diesem als Kind untergeschoben. 10 Seine Aussage gründe sich auf einstimmige Zeugnisse, und er werde sie beweisen, wenn auch Verginius selbst Richter sein sollte, der bei diesem Unrecht am meisten leide. Unterdessen sei es billig, dass die Magd ihrem Herrn folge. 11 Die Verteidiger des Mädchens führten an, Verginius sei im Dienst des Staates abwesend, er werde in zwei Tagen hier sein, sobald man es ihm sagen ließe; es sei hart, dass einem Abwesenden seine Kinder streitig gemacht würden, 12 und sie verlangten, Appius möge die Sache bis zur Ankunft des Vaters unentschieden lassen. Laut des von ihm selbst gegebenen Gesetzes möge er für den Aufschub zugunsten der Freiheit den Ausspruch tun und nicht zugeben, dass eine erwachsene Jungfrau Gefahr laufe, eher ihren guten Namen als ihre Freiheit zu verlieren.
(45) Appius leitete seinen Spruch folgendermaßen ein: Wie sehr er die Freiheit begünstigt habe, beweise selbst das Gesetz, auf das sich die Freunde des Verginius bei ihrer Forderung beriefen. 2 Allein die Freiheit finde nur dann in diesem Gesetz sicheren Schutz, wenn es sowenig zugunsten einer Sache als einer Person verdreht werde. Was sie verlangten, sei allerdings bei denen Recht, die als Herren ihrer selbst in ihrer angefochtenen Freiheit einstweilen erhalten werden müssten, weil sie als solche sich selbst an das Gesetz halten könnten, bei einer Person aber, die noch in väterlicher Gewalt stehe, könne es außer dem Vater keinen andern geben, dem der Eigentümer in der Besitzergreifung nachzustehen habe. 3 Er erkenne also dahin, dass der Vater geholt werden müsse, der Kläger aber unterdessen, um nicht an seinem Recht zu leiden, nicht abgehalten werde, das Mädchen mitzunehmen, und versprechen müsse, sie bei der Ankunft des angeblichen Vaters zu stellen.
4 Obgleich mehrere über das ungerechte Urteil murrten, wagte doch kein Mensch, sich zu widersetzen. Da kamen Publius Numitorius, des Mädchens Mutterbruder, und ihr Bräutigam Icilius dazu; 5 und da sich die Menge, die ihnen Platz machte, zum Widerstand gegen Appius das meiste von Icilius’ Eintreten versprach, rief der Gerichtsdiener, das Urteil sei schon gesprochen, und drängte den laut werdenden Icilius zurück.
6 Auch ein ruhiges Gemüt hätte eine so grässliche Ungerechtigkeit erbittert. Mit dem Schwert, rief Icilius, musst du mich hier wegtreiben lassen, Appius, wenn dir das ohne Rüge hingehen soll, was du so gern verheimlichen möchtest! Diese Jungfrau will ich heiraten, ich, der ich sie als eheliche, keusche Frau halten will. 7 Ruf immerhin alle Gerichtsdiener, auch die deiner Amtsgenossen, herbei, lass sie Ruten und Beile zur Hand nehmen; dennoch soll die Verlobte des Icilius nicht außerhalb des Hauses ihres Vaters bleiben. 8 Habt ihr gleich dem römischen Bürgerstand die tribunizische Hilfe und die Ansprache, diese beiden Bollwerke zur Behauptung seiner Freiheit, genommen, so ist darum eurem Hochmut noch keine Königsmacht über unsere Kinder und Frauen eingeräumt. 9 Wütet gegen unsere Rücken, gegen unsere Nacken, aber lasst wenigstens die Keuschheit unangetastet. Vergreift man sich an ihr, so rufe ich für meine Braut die hier versammelten Quiriten, Verginius für seine einzige Tochter die Soldaten, und wir alle – Götter und Menschen zum Beistand auf; und ohne uns zu morden, wirst du nimmermehr deinen Ausspruch gültig machen. 10 Ich fordere dich auf, Appius, überlege nach allen Richtungen, was für einen Schritt du tust. Kommt Verginius, so wird er selbst zusehen, wie er für seine Tochter zu sorgen habe. 11 Nur das soll er wissen, wenn er den Ansprüchen dieses Menschen nachgibt, so mag er sich nach einer Partie für seine Tochter umsehen. Ich aber lasse, die Freiheit meiner Braut zu retten, eher mein Leben schwinden als mein Wort.
(46) Die Menge war in Bewegung, und alles ließ sich zum Kampf an. Die Liktoren hatten Icilius umstellt. Doch blieb es bei Drohungen, 2 denn Appius erklärte, Icilius verteidige nicht die Verginia, sondern der unruhige Mensch, der noch immer Tribunengewalt atme, suche nur Gelegenheit zum Aufruhr. 3 Dazu wolle er ihm heute keine Veranlassung geben. Um ihm aber zu zeigen, dass er nicht allein auf seinen Mutwillen, sondern auf die Abwesenheit des Verginius, auf Vaternamen und Freiheit Rücksicht nehme, wolle er heute kein Recht sprechen, noch einen Ausspruch rechtskräftig machen, wolle lieber den Marcus Claudius ersuchen, von seinem Recht abzustehen und es geschehen zu lassen, dass das Mädchen bis zum folgenden Tag in den Händen ihrer Verteidiger bleibe. 4 Falls sich aber der Vater am folgenden Tag nicht stelle, so tue er hiermit dem Icilius und allen seinesgleichen kund, dass der Geber sowenig sein Gesetz, als der Mut den Dezemvir im Stich lassen werde, und dass er gar nicht gewillt sei, um den Aufrührern zu steuern, die Liktoren seiner Amtsgenossen zusammenzurufen; er hoffe mit seinen eigenen auszukommen.
5 Kaum hörten die Beistände des Mädchens den Aufschub der Freveltat, als sie auf die Seite traten und sogleich des Icilius Bruder und des Numitorius Sohn, zwei rüstige Jünglinge, aufforderten, geradezu von hier sich zum Tor hinaus zu begeben, damit so schnell wie möglich Verginius aus dem Lager geholt werde. 6 Davon hänge die Rettung des Mädchens ab, wenn morgen der, welcher gegen das Unrecht auftreten könne, zur festgesetzten Stunde sich einfinde. Auf dies Wort machten diese sich auf, gaben den Pferden die Sporen und brachten