Römische Geschichte. Livius Titus
Читать онлайн книгу.wurde zu groß; und um so schneller geriet die Sache in Verfall, und man kam wieder dahin zurück, den Titel und die Macht der Konsuln zweien zu übertragen.
3 Zu Dezemvirn wurden gewählt Appius Claudius, Titus Genucius, Publius Sestius, Lucius Veturius, Caius Julius, Aulus Manlius, Servius Sulpicius, Publius Curiatius, Titus Romilius und Spurius Postumius. 4 Dem Claudius und Genucius gab man, weil sie schon für dieses Jahr zu Konsuln bestimmt gewesen waren, die eine Würde für die andere, und dem Sestius, dem einen der vorjährigen Konsuln, wurde sie, weil er die Sache gegen den Willen seines Amtsgenossen bei den Vätern zum Vortrag gebracht hatte, zuteil. 5 Als die Würdigsten nächst ihnen nahm man die drei Gesandten, welche nach Athen gegangen waren, teils um sie für die weite Reise durch die Ehrenstelle zu belohnen, teils weil man sich von ihrer Bekanntschaft mit ausländischen Gesetzen für die Abfassung der neuen Rechte Vorteil versprach. 6 Die Übrigen machten die Zahl voll. Auch ließ man, wie es heißt, die letzten Wahlen auf betagte Männer fallen, damit diese den Beschlüssen der Übrigen nicht gar zu mutig widersprechen möchten.
7 Die Leitung der ganzen Behörde war durch die Gunst der Bürgerlichen in den Händen des Appius, und er hatte eine ihm so ganz neue Sinnesart angenommen, dass aus dem furchtbaren und ungestümen Verfolger des Bürgerstandes auf einmal ein Bürgerfreund wurde, der nach jedem Lüftchen der Volksgunst haschte. 8 Alle zehn Tage sprach einer von ihnen dem Volk Recht. An diesem Tag hatte dieser als Vorsitzender des Gerichts die zwölf Beilträger und jeder seiner Amtsgenossen nur einen Gerichtsdiener. Und mit der musterhaften Eintracht unter ihnen selbst – einer Einigkeit, die sonst den Untertanen nicht selten nachteilig wird – war die höchste Billigkeit gegen andere verbunden. 9 Ich begnüge mich, den Beweis für ihre Mäßigung durch das Beispiel eines einzigen Falles einleuchtend zu machen. Da vermöge ihrer Wahl keine Ansprache an das Volk von ihnen galt, setzte gleichwohl der Dezemvir Caius Julius, als man in dem Haus des Publius Sestius, eines Mannes vom Patrizierstand, eine verscharrte Leiche fand und vor die Versammlung brachte, dem Sestius, so offenkundig und schreiend die Sache war, doch nur einen Gerichtstag an, 10 trat vor dem Volk in einer Sache als Kläger auf, in der er gesetzmäßiger Richter war, und begab sich seines Rechtes, um in dem, was er an seiner obrigkeitlichen Gewalt schwinden ließ, der Freiheit des Volkes einen Zuwachs zu geben.
(34) In derselben Zeit, da bei ihnen dem Höchsten wie dem Niedrigsten sein Recht unverzögert und ungebeugt wie aus einem Orakel zuteil wurde, war auch die Abfassung der Gesetze in Arbeit; und als sie unter allgemein gespannter Erwartung zehn Tafeln öffentlich ausgestellt hatten, beriefen sie das Volk 2 und forderten alle auf, zum Glück, Heil und Segen des Staates, für sie selbst und ihre Kinder, hinzugehen und die ausgehängten Gesetze zu lesen. 3 Sie hätten, soweit der Einsicht von zehn Menschen die Fürsorge möglich gewesen sei, die Rechte aller, der Höchsten und der Niedrigsten, gleichgestellt. Die Einsicht und Beratung vieler vermöge mehr. 4 Sie möchten jeden Punkt bei sich im Geiste überlegen, ihn in ihren Gesprächen behandeln und über das Zuviel oder Zuwenig in jedem ihnen Mitteilungen machen. 5 Nur solche Gesetze solle das römische Volk haben, bei denen man vermuten müsse, dass die einmütige Stimme aller sie nicht etwa, nachdem sie vorgeschlagen waren, genehmigt, sondern selbst in Vorschlag gebracht habe.
6 Als sie nun nach den Äußerungen des Volkes über jeden bekannt gemachten Punkt hinlänglich berichtigt schienen, wurden auf einem Volkstag nach den Stimmen der Zenturien die Gesetze der zehn Tafeln bestätigt, die noch jetzt bei dieser ungeheuren Menge von nach und nach gehäuften Gesetzen die Quelle des gesamten Staats- und bürgerlichen Rechtes sind.
7 Bald hörte man allgemein sagen, dass noch zwei Tafeln fehlten; wenn diese hinzukämen, könne das gesamte römische Recht zu einer vollendeten Sammlung gedeihen. Diese Erwartung machte bei der Annäherung des Wahltages den Wunsch rege, abermals Dezemvirn zu wählen. Da auch die Dezemvirn die Ansprache von dem einen an den andern gestatteten, so vermisste der Bürgerstand, dem ohnehin Konsuln und Könige gleich verhasste Namen waren, nicht einmal den Beistand von Tribunen.
(35) Als aber nunmehr die Versammlungen zur Wahl der Dezemvirn für den dritten Markttag angekündigt waren, 2 entbrannte ein solcher Ehrgeiz, dass auch die ersten Männer des Staates – ich glaube, aus Furcht, wenn sie die Plätze unbesetzt ließen, möchte der Besitz einer so hohen Macht auch nicht ganz Würdigen offen stehen –, den Leuten die Hände drückten und um dasselbe Ehrenamt, dem sie sich aus allen Kräften widersetzt hatten, bei demselben Bürgerstand flehentlich nachsuchten, mit dem sie darüber gestritten hatten. 3 Die als Kampfpreis ausgestellte Würde spornte selbst den Appius Claudius, obwohl er ein Mann in reifem Alter war und die höchsten Ehrenstellen bekleidet hatte. Man wusste nicht, ob man ihn unter die Dezemvirn oder unter die Kandidaten zählen sollte; 4 oft schien er mehr das Amt zu suchen als zu bekleiden. Er führte Klagen über die Vornehmen, er erhob jeden der niedrigsten Bewerber; umringt von ehemaligen Tribunen, 5 einem Duellius, einem Icilius, eilte er auf dem Markt umher; durch sie ließ er sich den Bürgerlichen anpreisen, bis endlich auch seine Amtsgenossen, die ihm bis dahin innig ergeben waren, aufmerksam wurden und nicht begriffen, was er darunter suche. 6 Offenbar sei da keine Aufrichtigkeit. Diese Leutseligkeit bei so viel Hochmut müsse gewiss ihre Gründe haben. Sich so sehr zum Gewöhnlichen herabzustimmen und mit Privatleuten gemein zu machen, sei nicht die Art dessen, der im Begriff stehe, sein Amt abzugeben, sondern dessen, der sich den Weg zur Verlängerung des Amtes zu bahnen suche. 7 So mutlos, seiner Ehrsucht offen in den Weg zu treten, suchten sie unter dem Schein der Gefälligkeit seine Zudringlichkeit zu mildern. Einstimmig übertrugen sie ihm, weil er doch der Jüngste sei, das Geschäft, den Wahltag zu halten. 8 Dies war ein Kunstgriff: Er sollte sich nicht selbst wählen können, denn dies hatte bis dahin noch niemand, die Volkstribunen ausgenommen, und auch diese nicht ohne den geringsten Anstoß getan. Er aber, der sich gleich dazu verstand, er wolle in Gottes Namen die Wahlversammlungen leiten, ergriff das Gegenmittel als eine Gelegenheit, 9 und da er vermittels seiner Verbindungen die beiden Quinctier, Capitolinus und Cincinnatus, ferner seinen Onkel Caius Claudius, einen entschiedenen Freund der Optimaten, und andere Männer von gleich hohem Rang durchfallen ließ, stellte er Dezemvirn auf, die jenen an glänzenden Verdiensten durchaus nicht gleichkamen, 10 und unter den ersten sich selbst, was die Bessergesinnten, nachdem er es getan, ebenso sehr missbilligten, als es niemand geglaubt hatte, dass er es wagen werde. 11 Mit ihm wurden gewählt Marcus Cornelius Maluginensis, Marcus Sergius, Lucius Minucius, Quintus Fabius Vibulanus, Quintus Poetelius, Titus Antonius Merenda, Kaeso Duellius, Spurius Oppius Cornicen, Manius Rabuleius.
(36) Nun hörte Appius auf, eine fremde Rolle zu spielen, von jetzt an fing er an, sich seiner Sinnesart zu überlassen und seine neuen Amtsgenossen, ehe sie noch die Würde antraten, nach seinem Geist zu bilden. 2 Täglich kamen sie ohne Zeugen zusammen. Hier eingeschult in despotische Entwürfe, über denen sie ohne Mitwissen anderer brüteten, trieben sie ihr Wesen, selbst ohne ihren Übermut länger zu verbergen – ließen sie doch selten jemand vor, sprachen sie doch mit den Vorgelassenen so unfreundlich –, bis zum 15. Mai.
3 Der 15. Mai war damals zur Übernahme der Staatsämter festgesetzt. Gleich beim Antritt des Amtes bezeichneten sie den ersten Tag ihres Amtes durch Androhung eines gewaltigen Schreckens. Denn da die vorigen Dezemvirn es so gehalten hatten, dass sich nur einer die Rutenbündel vorantragen ließ, und dies königliche Machtzeichen der Reihe nach, so wie jeden der Wechsel traf, bei allen herumging, traten sie plötzlich alle, jeder mit zwölf Rutenbündeln, auf. 4 120 Beilträger erfüllten den Gerichtsplatz und trugen in den Rutenbündeln die aufgesteckten Beile zur Schau. Und die Dezemvirn gaben darüber die Erklärung ab, es wäre unnötig gewesen, die Beile wegzulassen, da doch alle Ansprache von ihnen ungültig sei. 5 Es war ein Anblick von zwölf Königen, und ein vervielfachter Schrecken, nicht nur für die Niedrigen, sondern selbst für die Häupter des Senates, weil sie glaubten, man suche nur einen Vorwand, mit Morden anzufangen, so dass, wenn jemand im Senat oder im Volk ein Wort fallen ließe, in dem noch Freiheit atme, sogleich Ruten und Beile, um andere zu schrecken, gehandhabt würden. 6 Denn außer dem, dass man bei dem Volk keine Hilfe finden konnte, da alle Ansprache abgeschafft war, hatten auch die Dezemvirn allen vermittelnden Widerspruch unter sich selbst, durch ihre Verabredung vernichtet, während die vorigen Dezemvirn gestattet hatten, dass ihre Aussprüche bei erfolgter Ansprache an ihren Amtsgenossen abgeändert wurden, und manches, was vor ihren Richterstuhl zu gehören schien, vor das Volk gebracht hatten.
7 Eine Zeitlang war der Schrecken für alle