Römische Geschichte. Livius Titus

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Römische Geschichte - Livius Titus


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vorerst als eine Freie behalten zu können, Bürgen stellen möchte, und Icilius ihm sagte, sie seien eben damit beschäftigt, obgleich er absichtlich zögerte, um die ins Lager Abgeschickten einen Vorsprung gewinnen zu lassen, so streckte das Volk rundum die Hände empor, und jeder bot sich dem Icilius zur Bürgschaft an. 8 Mit Tränen erwiderte er: Ich danke euch. Morgen werde ich von eurer Bemühung Gebrauch machen. Jetzt haben wir Bürgen genug. So wurde Verginia gegen Bürgschaft der nächsten Verwandten einstweilen freigelassen.

      9 Appius, der noch ein wenig wartete, damit es nicht so scheinen sollte, als habe er bloß dieser Sache wegen die Sitzung gehalten, begab sich endlich, weil niemand vortrat – denn aus Teilnahme für diese einzige Sache setzte man alles Übrige zurück – nach Hause und schrieb seinen Amtsgenossen ins Lager, sie möchten dem Verginius keinen Urlaub geben, sondern ihn vielmehr verhaften. 10 Dieser gottlose Anschlag kam verdientermaßen zu spät. Und Verginius war schon nach erhaltenem Urlaub um die erste Nachtwache abgegangen, als am folgenden Morgen der Brief mit dem Auftrag, ihn festzuhalten, erfolglos eingeliefert wurde.

      (47) In der Stadt geleitete am frühen Morgen, als die Bürger erwartungsvoll schon auf dem Markt standen, Verginius im Trauerkleid seine Tochter, ebenfalls im schmutzigen Gewand, auf den Markt, mit einem Gefolge von mehreren Frauen und vielen Beiständen. 2 Hier ging er bei den Leuten herum, drückte ihnen die Hand und sprach sie um ihren Beistand an, den er sich nicht bloß erbitte, sondern der ihm gebühre. Für ihre Kinder und Gattinnen stehe er täglich im Feld, und der Mann müsse noch auftreten, der sich im Feld mehrerer Beweise der Brauchbarkeit und Tapferkeit rühmen könne. Was ihm das alles helfe, wenn seine Kinder mitten im Glück Roms Behandlungen zu leiden haben sollten, die sie, wenn es von Feinden erobert wäre, als das Grausamste fürchten müssten. 3 So beinahe im Ton einer Volksrede sprechend, ging er von dem einen zum andern. Ähnliche Reden führte Icilius. Aber mehr als alle Worte wirkte die weibliche Begleitung durch stilles Weinen.

      4 Taub und unempfindlich gegen dies alles, bestieg Appius (so sehr hatte – die Tollheit, möchte man eher sagen, als – die Liebe, seinen Verstand verrückt) den Richterstuhl; und da der Kläger ganz kurz sich sogar beschwerte, dass man ihm gestern, um sich gefällig zu machen, sein Recht vorenthalten habe, so nahm schon, ohne jenen sein Gesuch zu Ende bringen zu lassen oder dem Verginius Zeit zur Gegenrede zu gestatten, Appius das Wort. 5 Es kann sein, dass uns ältere Geschichtsschreiber die Erörterung, die er seinem Ausspruch zum Gewand gab, der Wahrheit gemäß überliefert haben, weil ich aber nirgends eine finde, die einem so abscheulichen Spruch nur eine erträgliche Wahrscheinlichkeit gäbe, so wird es am besten sein, das, worin alle übereinstimmen, einfach anzuführen, dass er dem Kläger das Recht zugesprochen habe, sich seiner Sklavin zu bemächtigen.

      6 Anfangs waren alle vor Staunen über das Unbegreifliche einer solchen Scheußlichkeit erstarrt, und es erfolgte eine tiefe Stille. Als aber Marcus Claudius hinging, das von Frauen umgebene Mädchen zu greifen und mit Jammern und Wehklagen der Frauen empfangen wurde, 7 da rief Verginius, seine Hände gegen Appius emporstreckend: Appius, dem Icilius habe ich meine Tochter versprochen, nicht dir, und erzogen habe ich sie zur Ehe, nicht zur Schändung! Machst du das zur Sitte, dass man wie das Vieh, wie das Wild, über alles, was weiblich ist, wollüstig herfällt? Ob man dir das hier gestatten werde, weiß ich nicht, doch hoffe ich, dass es die nicht dulden sollen, welche Waffen in den Händen haben. 8 Während den verfolgenden Kläger die Schar von Frauen und umherstehenden Freunden zurückstieß, wurde durch den Herold Stille geboten.

      (48) Der Dezemvir, durch Wollust völlig seines Verstandes beraubt, fing an, nicht bloß durch die gestrige Widersetzlichkeit des Icilius, nicht bloß durch das Ungestüm des Verginius, worüber er jetzt das römische Volk zu Zeugen nehme, sondern durch zuverlässige Aussagen habe er in Erfahrung gebracht, dass sich während der ganzen Nacht Rotten in der Stadt zusammengetan hätten, um Aufruhr zu erregen. 2 Auf diesen Kampf gefasst, sei er mit Bewaffneten erschienen, nicht um irgendeinem der ruhigen Bürger zu nahe zu treten, sondern um die Störer der öffentlichen Ruhe gemäß der Würde seines Oberbefehls zu beschränken. 3 Demnach rate ich euch, fuhr er fort, ruhig zu sein! Dorthin, Liktor, treibe den Haufen auseinander und schaffe Platz, dass der Eigentümer seine Sklavin greifen kann!

      Als er diese Worte in vollem Zorn herabgedonnert hatte, trat die Menge von selbst auseinander, und das Mädchen stand verlassen als Beute des Unrechts da. 4 Da sprach Verginius, als er nirgends Hilfe sah: Ich bitte dich, Appius, zuerst dem väterlichen Schmerz zu verzeihen, wenn ich mich zu hart gegen dich ausgelassen habe; dann aber erlaube mir, hier im Angesicht des Mädchens die Amme zu befragen, wie die Sache möglich sei, damit ich, wenn ich mit Unrecht Vater geheißen habe, um so beruhigter hier abtreten kann. 5 Nach erhaltener Erlaubnis führte er Tochter und Amme auf die Seite, in die Nähe des Tempels der Cloacina, zu den Buden, die jetzt die Neuen heißen, und indem er hier ein Fleischermesser ergriff, sprach er: Kind, dies einzige Mittel blieb mir, deine Freiheit zu retten. Dann durchbohrte er dem Mädchen die Brust und rief, zum Richterstuhl hinaufblickend: Auf dich, Appius, und dein Haupt lade ich den Fluch dieses Blutes. 6 Appius, durch das über die schreckliche Tat erhobene Geschrei aufgeregt, gab Befehl, den Verginius zu greifen. Dieser aber bahnte sich, wo er ging, mit dem Messer den Weg, bis er, selbst von der nacheilenden Menge geschützt, das Tor erreichte.

      7 Icilius und Numitorius, die den entseelten Körper aufhoben, zeigten ihn dem Volk und machten unter Tränen das Verbrechen des Appius, die unglückliche Schönheit des Mädchens, die dem Vater gebietende Not zum Vorwurf ihrer Klagen. 8 Die Frauen zogen hinterher und schrieen: Dazu also sollten sie Kinder gebären? Dies sei der Keuschheit Lohn? Und mehr dergleichen, wie es ihnen in solchen Fällen der weibliche Schmerz, je inniger er bei ihrem weicheren Herzen ist, zu desto rührenderen Klagen eingibt. 9 Die Rede der Männer, und besonders die des Icilius, beschäftigte sich ausschließlich mit der tribunizischen Gewalt und dem Recht der Berufung ans Volk, das ihnen entrissen war, und mit den öffentlichen Beschwerden.

      (49) Die Menge geriet in Aufregung teils über die empörende Bosheit, teils durch die Hoffnung, bei dieser Gelegenheit ihre Freiheit wiederzugewinnen. 2 Appius befahl bald, den Icilius zu fordern, bald, den widerspenstigen zu greifen; endlich, weil man seine Amtsdiener jenem nicht beikommen ließ, brach er mit einer Schar pratrizischer Jünglinge durch das Gedränge und befahl, ihn ins Gefängnis zu werfen. 3 Allein schon schloss sich an Icilius nicht bloß die Menge, sondern auch Lucius Valerius und Marcus Horatius als Anführer der Menge an. Sie erklärten, als sie den Gerichtsdiener zurückgeworfen hatten, wenn es hier nach Recht gehen sollte, so wären sie hier Beschützer des Icilius gegen einen Mann ohne Amt, und wenn dieser Gewalt anwenden wolle, würden sie ihm auch da gewachsen sein. 4 Es erfolgte eine stürmische Schlägerei. Der Liktor des Dezemvirs will Hand an Valerius und Horatius legen; das Volk zerbrach ihm die Rutenbündel. Appius bestieg die Bühne, Horatius und Valerius ihm nach. 5 Auf sie hörte die Versammlung, dem Appius tobte sie entgegen, schon gebot Valerius dem Liktor vermöge seines Machtspruches, von Appius als einem Amtlosen abzutreten, als dieser, der seinen Trotz besiegt sah und für sein Leben fürchtete, sich, von seinen Gegnern unbemerkt, mit verhülltem Haupt in ein Haus in der Nähe des Marktes rettete.

      6 Spurius Oppius brach, um seinem Amtsgenossen zu Hilfe zu kommen, von einer andern Seite auf den Marktplatz herein, aber er sah die Herrschaft durch Gewalt besiegt, von mancherlei Anschlägen umgetrieben, zwischen denen er immer unschlüssig blieb, weil er nach allen Seiten hin den vielen Ratgebern beipflichtete, ließ er endlich den Senat berufen. 7 Dies beruhigte die Menge, weil sie hoffte, da einem großen Teil der Väter das Verfahren der Dezemvirn zu missfallen schien, durch den Senat selbst ihrer Herrschaft ein Ende zu machen. 8 Der Senat stimmte dahin, der Bürgerstand dürfe nicht erbittert werden, vielmehr müsse man vorbeugen, dass nicht die Ankunft des Verginius einen Aufstand im Heer veranlasse.

      (50) Also wurden die jüngeren Väter ins Lager geschickt, das damals auf dem Berg Vecilius war, um den Dezemvirn zu sagen, sie möchten alles Mögliche tun, die Soldaten von einer Empörung zurückzuhalten. 2 Hier aber hatte Verginius einen größeren Aufstand erregt, als er in der Stadt zurückgelassen hatte. Denn man sah ihn nicht nur mit einer Schar von beinahe 400 Menschen aus der Stadt kommen, welche aus Erbitterung über das unwürdige Verfahren ihn aus der Stadt begleitet hatten – 3 auch das emporgehaltene Messer und das Blut, womit auch er bespritzt war, zog das ganze Lager um ihn her, und die vielen Menschen in städtischer


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