Römische Geschichte. Livius Titus
Читать онлайн книгу.Auf die Frage, was es denn wäre, konnte er lange vor Tränen kein Wort hervorbringen. Endlich, als der Haufe vom Getümmel des Zusammenlaufes zum Stehen kam und Stille eintrat, erzählte er der Reihe nach alles, wie es vorgefallen war. 5 Dann, mit zum Himmel erhobenen Händen und sie seine Kameraden nennend, bat er, sie möchten nicht ihm zuschreiben, was Appius Claudius verbrochen habe, ihn nicht als den Mörder seiner Kinder verabscheuen. 6 Das Leben seiner Tochter sei ihm teurer als sein eigenes gewesen, wenn sie als eine Freie, als eine Keusche hätte leben können. Da er sie aber als Sklavin zur Schändung habe fortschleppen sehen, habe er sich, in der Überzeugung, es sei besser, seine Kinder durch den Tod als durch Entehrung zu verlieren, als der Zärtliche den Schein des Grausamen gegeben. 7 Auch würde er seine Tochter nicht überlebt haben, wenn er sich nicht vom Beistand seiner Kriegskameraden Rache für ihren Tod versprochen hätte. Denn auch sie hätten Töchter, Schwestern und Gattinnen, und mit seiner Tochter sei des Appius Claudius Unzucht noch nicht erloschen, sondern werde umso zügelloser werden, je ungestrafter sie sei. 8 In dem Unglück eines Dritten sei ihnen die Lehre gegeben, sich selbst vor ähnlicher Gewalttat zu hüten, was ihn betreffe, so sei ihm seine Frau durch den Tod entrissen worden, seine Tochter habe, weil sie in Keuschheit ferner nicht hätte leben sollen, einen kläglichen, aber ehrenvollen Tod gefunden, 9 sein Haus also biete der Unzucht des Appius weiter keinen Stoff. Und vor seiner übrigen Gewalttätigkeit werde er seine Person mit demselben Mut zu schützen wissen, mit dem er seine Tochter geschützt habe. Die Übrigen aber sollten für sich selbst und ihre Kinder sorgen.
10 Auf diese lauten Klagen des Verginius ertönte ein allgemeines Geschrei, sie würden sich weder die Rache für seinen Schmerz noch ihre Freiheit nehmen lassen. Und da die in das Gewühl der Soldaten sich einmischenden Städter in seinen kläglichen Bericht einstimmten und ihnen begreiflich machten, wie viel schrecklicher das alles anzusehen gewesen sei, als es ihnen anzuhören sein könne, und sie zugleich versicherten, die Herrschaft zu Rom sei so gut wie vernichtet, und endlich noch die später Nachkommenden meldeten, 11 Appius habe sich mit Lebensgefahr kaum noch ins Ausland flüchten können, da bewirkte dies alles, dass die Soldaten zu den Waffen riefen, die Fahnen erhoben und den Marsch nach Rom antraten.
12 Die Dezemvirn, ebenso sehr durch die Auftritte vor ihren Augen als durch die Nachrichten aus Rom beunruhigt, liefen, der eine in diesen, der andere in jenen Teil des Lagers, um den Aufstand zu stillen. Auf gelinde Vorstellungen erhielten sie keine Antwort, versuchte es einer mit Strenge, so hieß es, hier hätten sie Männer und Bewaffnete vor sich. 13 In geschlossenem Zug gingen die Soldaten zur Stadt und besetzten den Aventin, wobei sie jeden Bürgerlichen, der ihnen begegnete, zur Wiedereroberung der Freiheit und zu einer Tribunenwahl aufforderten, weiter hörte man kein heftiges Wort.
14 Jetzt hielt Spurius Oppius eine Senatsversammlung ab. Man fand für gut, durchaus nicht mit Schärfe zu verfahren, weil sie selbst den Aufruhr veranlasst hätten. 15 Drei Konsularen, Spurius Tarpeius, Caius Julius und Publius Sulpicius wurden als Gesandte abgeschickt, im Namen des Senates die Soldaten zu befragen, auf wessen Befehl sie ihr Lager verlassen hätten, oder was sie damit bezweckten, dass sie bewaffnet den Aventin besetzt und unter Aufgabe des Krieges gegen die Feinde sich ihrer Vaterstadt bemächtigt hätten. 16 Es fehlte nicht an einer Antwort, es fehlte an dem, der sie erteilen sollte, weil sie noch keinen bestimmten Führer hatten und jeder Einzelne zu furchtsam war, die Verantwortung zu übernehmen. Nur so viel schrie ihnen die Menge zu, man möge ihnen den Lucius Valerius und Marcus Horatius schicken, diesen würden sie antworten.
(51) Nach Entlassung der Gesandten stellte Verginius den Soldaten vor, man sei in einer nicht sehr wichtigen Sache vorher in Verlegenheit gewesen, weil die Menge kein Haupt gehabt habe, und man habe zwar nicht ungeschickt, aber doch mehr aus zufälliger Übereinstimmung als nach gemeinschaftlichem Plan geantwortet. 2 Er schlage ihnen vor, zehn Männer zu wählen, welche die Leitung des Ganzen hätten und nach einer Ehrenbenennung, wie Krieger sie gäben, Kriegstribunen heißen könnten. 3 Als ihm diese Stelle vor allen anderen angetragen wurde, antwortete er: Wolltet ihr euch nicht lieber diese günstigen Äußerungen über mich auf bessere Zeiten für mich und für euch aufsparen? 4 Solange der Tod meiner Tochter ungerächt bleibt, kann mir kein Ehrenamt erfreulich sein, und auch für euch ist es nicht ratsam, diejenigen an eurer Spitze zu haben, die der Hass eurer Gegenpartei zunächst treffen möchte. 5 Sollte ich euch in etwas nützlich sein können, so kann ich das ohne Amt ebenso gut sein. 6 Also wählten sie zehn Kriegstribunen.
7 Auch das Heer im Sabinerland blieb nicht ruhig. Auf Anraten des Icilius und Numitorius trennte man sich von den Dezemvirn auch hier, wo das neue Gerücht, dass man ein Mädchen auf so schändliche Weise zum Missbrauch habe wegnehmen wollen, die Erbitterung nicht stärker anfachen konnte, als das erneuerte Andenken an den Mord des Siccius schon getan hatte. 8 Als Icilius hörte, auf dem Aventin habe man Kriegstribunen gewählt, und er befürchten musste, die Wahlversammlung der Bürger möchte sich demnächst durch die von den Soldaten früher vollzogene Wahl bestimmen lassen, ebendiese Kriegstribunen zu Volkstribunen zu ernennen, 9 so ging er, als ein in Volksverhandlungen gewandter Mann, der sich selbst auf diese Ehrenstelle Hoffnung machte, darauf aus, dass auch hier, ehe der Zug zur Stadt vor sich ging, eine gleiche Anzahl mit gleicher Würde gewählt wurde. 10 Sie rückten unter den Fahnen zum Collinischen Tor ein und zogen mitten durch die Stadt auf den Aventin. Hier gaben sie mit dem andern Heer im Verein den zwanzig Kriegstribunen den Auftrag, zwei aus ihrer Mitte zu Oberbefehlshabern zu erwählen. 11 Dies traf den Marcus Oppius und Sextus Manilius.
Die Väter, welche, über den Besitz der Regierung in Sorgen, täglich im Senat sich versammelten, brachten die Zeit öfter mit Wortstreitigkeiten als mit Beratungen hin. 12 Den Dezemvirn warfen sie die Ermordung des Siccius vor, die Frechheit des Appius und die verlorene Ehre im Feld, sie wünschten, Valerius und Horatius möchten auf den Aventin gehen. Diese versicherten, sie würden nur dann hingehen, wenn die Dezemvirn die Ehrenzeichen eines Staatsamtes ablegten, von dem sie schon vor einem Jahr abgegangen wären. 13 Die Dezemvirn, die sich darüber beschwerten, dass man ihnen zu viel zumute, erklärten, sie würden die Regierung nicht niederlegen, bevor nicht die Gesetze angenommen würden, um derentwillen man sie erwählt habe.
(52) Die Bürgerlichen, die durch Marcus Duellius, einen gewesenen Volkstribunen, Nachricht erhielten, dass unter den fortdauernden Streitigkeiten nichts erledigt würde, gingen vom Aventin auf den Heiligen Berg, 2 weil Duellius versicherte, die Sorge werde den Vätern nicht eher zu Herzen gehen, bis sie die Stadt verlassen sähen. Der Heilige Berg werde sie an die Beharrlichkeit des Bürgerstandes erinnern; dann würden sie es sich selbst sagen, dass ohne Wiedereinsetzung der Tribunen keine Eintracht möglich sei. 3 Ihr Zug ging die Nomentanische Straße, welche damals die Ficulensische hieß, und der Mäßigung ihrer Väter46 treu, schlugen sie, ohne irgendetwas zu schädigen, auf dem Heiligen Berg ein Lager auf. Dem Heer zogen die Bürger nach, so dass keiner, der altershalber gehen konnte, zurückblieb. 4 Ihnen folgten ihre Gattinnen und Kinder, die wehmütig fragten, wozu sie in einer Stadt zurückgelassen würden, in der weder Keuschheit noch Freiheit heilig sei.
5 Da die ungewöhnliche Entvölkerung alles in Rom verödet hatte und auf dem Markt außer einigen Greisen niemand zu sehen war, und vollends den Vätern auf ihrem Wege in den Senat der Markt sich in seiner Leere zeigte, riefen nun schon viele und unter ihnen Horatius und Valerius laut: 6 Worauf wartet ihr, versammelte Väter? Wollt ihr, wenn die Dezemvirn ihrer Hartnäckigkeit kein Ziel setzen, alles einstürzen und verbrennen lassen? Und was ist das für eine Regierung, ihr Dezemvirn, die ihr so festhaltet? Wollt ihr Häusern und Wänden Recht sprechen? 7 Schämt ihr euch nicht, dass man auf dem Markt eure Liktoren fast in größerer Anzahl als andere Bürger sieht? Was wollt ihr anfangen, wenn die Feinde gegen die Stadt ziehen, oder wenn nächstens die Bürger, falls ihre Auswanderung nicht gehörig auf uns wirkt, bewaffnet ankommen? Wollt ihr eure Regierung mit dem Untergang der Stadt beenden? 8 Nun aber bleibt uns keine andere Wahl – entweder keinen Bürgerstand oder Volkstribunen, wir würden eher der patrizischen Obrigkeiten entbehren können, als sie der bürgerlichen. 9 Sie zwangen dieses Amt, ehe sie es kannten und versucht hatten, unsern Vätern ab, gewiss nicht, um sich jetzt, nachdem sie einmal seine Süßigkeit geschmeckt haben, an den Verlust desselben zu gewöhnen, zumal auch wir uns im Befehlen nicht so mäßigen, dass ihnen ein Beistand entbehrlich würde. 10 Da solche Äußerungen von allen Zeiten laut wurden, erklärten die Dezemvirn, sie würden sich, weil man es so haben