Römische Geschichte. Livius Titus
Читать онлайн книгу.in dem fast vernichteten Staat erhielt man doch jedem sein Recht. 8 Der Weg musste durch die feindlichen Wachen nicht ohne große Gefahr genommen werden. Ein unternehmender Jüngling, Pontius Cominius, erbot sich hierzu, legte sich auf Kork und schwamm den Tiber hinab zur Stadt. 9 Von hier stieg er, so nahe es ihm vom Ufer aus möglich war, an dem steilen und deswegen von der feindlichen Wache nicht beachteten Felsen zum Kapitol hinan, wurde vor die Behörden geführt und entledigte sich der Aufträge des Heeres. 10 Nachdem er hier den Senatsbeschluss erhalten hatte, dass teils Camillus, wenn er in den Kuriatskomitien65 aus der Verbannung zurückberufen wäre, sogleich durch die Stimme des Volkes zum Diktator ernannt werden sollte, teils dass die Soldaten den zum Feldherrn haben sollten, den sie wollten, stieg er auf demselben Weg wieder herab und ging als Bote nach Veji; 11 und es wurden nach Ardea Gesandte zu Camillus geschickt, die ihn nach Veji rufen sollten, oder (weil ich lieber glauben möchte, er sei nicht eher von Ardea abgegangen, bis er erfahren hatte, dass der ihn betreffende Vorschlag durchgegangen sei, denn ohne Genehmigung des Volkes hätte er weder die Grenze wieder betreten noch, ohne zum Diktator ernannt zu sein, den Oberbefehl im Heer haben können) die Kurien genehmigten66 den Vorschlag, und Camillus wurde abwesend zum Diktator ernannt.
(47) Während dies zu Veji geschah, waren die Burg zu Rom und das Kapitol in großer Gefahr. 2 Denn die Gallier, die entweder da, wo der Bote von Veji hinaufgekommen war, eine Menschenspur entdeckten, oder auch von selber bemerkt hatten, dass bei dem Tempel der Carmentis der Felsen leichter zu ersteigen sei, kamen in einer sternhellen Nacht, so dass sie zuerst einen Unbewaffneten, den Weg zu versuchen, vorangehen ließen, dann ihm ihre Waffen zureichten, ferner bei schwierigen Stellen einer um den andern sich wechselweise stützten und hoben, auch, je nachdem es der Ort erforderte, einer den andern zog, in solcher Stille die Anhöhe hinan, 3 dass sie nicht allein den Wachen unbemerkt blieben, sondern sogar die Hunde nicht weckten, während diese Tiere sonst jedes nächtliche Geräusch weckt. 4 Nur den Gänsen entgingen sie nicht, an denen man sich in der größten Hungersnot, weil sie der Juno heilig waren, nicht vergriffen hatte. Und dies rettete Rom. Von ihrem Geschrei und Flügelschlag geweckt, ergriff Marcus Manlius – er war vor drei Jahren Konsul gewesen, ein im Krieg ausgezeichneter Mann – die Waffen, rief die Übrigen zu den Waffen und eilte herbei; und während jene zusammeneilten, warf er den schon oben stehenden Gallier durch einen Stoß mit dem Buckel seines Schildes herunter. 5 Als der Sturz des Gefallenen die Nächsten umstieß, erlegte Manlius einige andere in ihrer Bestürzung, die mit Wegwerfung der Waffen die Klippen, an denen sie hingen, mit den Händen umklammerten; nun sammelten sich schon andere und vertrieben den Feind mit Pfeilen und Steinen, so dass die ganze Schar Hals über Kopf herabstürzend in den Abgrund hinabsank.
6 Als sich der Aufruhr gelegt hatte, überließen sie sich, soweit es der Schrecken gestattete, da auch die überstandene Gefahr sie noch in Spannung erhielt, für den übrigen Teil der Nacht dem Schlaf. 7 Mit Anbruch des Tages berief eine Trompete die Soldaten zur Versammlung vor den Kriegstribunen, um dem Verdienst ebenso wie der Pflichtvergessenheit ihren Lohn zu geben, und zuerst wurden dem Manlius für seine Tapferkeit Lob und Geschenke erteilt, nicht bloß von den Kriegstribunen, sondern auch einmütig von den Soldaten; 8 denn sie brachten ihm jeder ein halbes Pfund Roggen und ein Viertelchen Wein in sein auf der Burg gelegenes Haus, ein kleines Geschenk, das aber der Mangel zu einem auffallenden Beweis der Liebe machte, insofern jeder mit Verkümmerung seiner eigenen Lebensmittel den Beitrag zur ehrenvollen Gabe für den einen Mann seiner Person und seinen nötigsten Bedürfnissen entzog. 9 Darauf wurden die Wachen des Postens vorgefordert, wo man den heransteigenden Feind unbeachtet gelassen hatte, und obgleich der Kriegstribun Quintus Sulpicius erklärte, er werde die Strafe nach Kriegsrecht an allen vollziehen, 10 so ließ er sich doch durch das einstimmige Geschrei der Soldaten, welche die Schuld auf einen Wächter schoben, von der Bestrafung der übrigen abhalten und zur allgemeinen Zufriedenheit den einen, dieser Schuld offenbar überwiesenen, vom Felsen herabstürzen. 11 Seitdem waren die Wachen von beiden Seiten aufmerksamer, bei den Galliern, weil man merkte, dass zwischen Veji und Rom Boten ab- und zugingen, und bei den Römern, weil ihnen die Gefahr jener Nacht im Gedächtnis blieb.
(48) Aber mehr als alle Leiden der Belagerung und des Krieges drückte beide Heere die Hungersnot; 2 die Gallier auch eine Seuche, weil sie auf einem zwischen Hügeln gelegenen Boden ihr Lager hatten, der noch dazu durch die Feuersbrünste ausgedörrt und voll Dampf war, und sowie sich ein Wind erhob, nicht allein Staub, sondern auch Asche verbreitete. 3 Dies kann das Volk am allerwenigsten ertragen, das an Feuchtigkeit und Kälte gewöhnt ist, und durch die Hitze und die Beklemmung gequält, starben sie, wie wenn unter dem Vieh eine Seuche sich verbreitet; aber aus Faulheit, die Einzelnen zu begraben, verbrannten sie die ohne Unterschied aufgestapelten Haufen von Menschen, und dadurch wurde die Stelle durch den Namen der Gallischen Brandstätten berühmt.
4 Darauf schlossen sie mit den Römern einen Waffenstillstand, und mit Bewilligung der Feldherren knüpfte man Unterhandlungen an; und da die Gallier in diesen den Römern mehrmals den Hunger vorhielten, der sie zwinge, sich auf die Übergabe einzulassen, so warf man, wie erzählt wird, um diesen Verdacht von sich abzuwenden, an mehreren Orten vom Kapitol Brot unter die feindlichen Posten.
5 Nun aber ließ sich die Hungersnot ebenso wenig länger verbergen als ertragen. Während also der Diktator in Ardea die Werbung für sich hielt, den Magister Equitum Lucius Valerius das Heer von Veji abführen ließ und alle Verfügungen und Vorkehrungen traf, 6 um dem Feind beim Angriff gewachsen zu sein, sah das Kapitolinische Heer, das vom Postenstehen und Wachen erschöpft dennoch allen menschlichen Leiden Trotz bot, dem aber die Natur selbst die Besiegung des Hungers versagte, von einem Tag zum andern danach aus, ob sich gar keine Hilfe vom Diktator zeigen wolle; 7 und da endlich mit den Lebensmitteln auch die Hoffnung schwand, und bei dem beständigen Fortgang des Postendienstes fast die Waffen allein den entkräfteten Körper zu Boden drückten, da verlangte es Übergabe oder Loskaufung unter jeder Bedingung, denn die Gallier hatten sich nicht undeutlich verlauten lassen, sie würden sich für einen nicht hohen Preis zur Aufhebung der Belagerung geneigt finden lassen. 8 Der Senat wurde berufen und den Kriegstribunen der Auftrag gegeben, einen Vergleich einzugehen. Der Kriegstribun Quintus Sulpicius und der Fürst der Gallier, Brennus, brachten die Sache in einer Unterredung zustande, und der Preis des Volkes, welches demnächst die Welt beherrschen sollte, wurde zu tausend Pfund Gold67 bestimmt. 9 Die darin liegende Schande wurde noch durch eine Unwürdigkeit erhöht. Die Gallier brachten falsche Gewichtsstücke mit, und da sie der Tribun nicht gelten lassen wollte, warf der übermütige Gallier noch sein Schwert zu den Gewichten und ließ den einem römischen Ohr unerträglichen Ausruf hören: Wehe den Besiegten!
(49) Doch Götter und Menschen wandten es ab, dass die Römer nicht als Erkaufte leben sollten. Es musste sich so fügen, ehe noch der schändliche Kauf zustande kam, weil über den Wortwechsel noch nicht alles Gold abgewogen war, dass der Diktator dazu kam und befahl, das Gold wegzunehmen und die Gallier wegzuweisen. 2 Als diese sich sträubend den Vertrag vorschützten, sagte er, der Vergleich sei ungültig, weil er nach seiner Ernennung zum Diktator ohne sein Geheiß von einer untergeordneten Obrigkeit geschlossen sei, und kündigte den Galliern an, sich zur Schlacht bereitzuhalten. 3 Seine Krieger aber hieß er ihr Gepäck auf einen Haufen werfen, die Waffen anlegen und das Vaterland mit dem Schwert, nicht mit Gold wiedererwerben, da sie jetzt die Heiligtümer der Götter, ihre Gattinnen und Kinder, den durch die Leiden des Krieges verunstalteten Boden ihrer Vaterstadt und lauter Dinge vor Augen hätten, deren Verteidigung, Wiedereroberung und Rache die Pflicht gebiete. 4 Darauf stellte er sein Heer, so gut es die Beschaffenheit des Platzes gestattete, auf dem Boden einer halb zerstörten Stadt, der an sich selbst schon uneben war, und was durch Kriegskunst den Seinigen zum Vorteil gewählt und vorbereitet werden konnte, das besorgte er alles. 5 Die Gallier, über den unerwarteten Auftritt bestürzt, griffen zu den Waffen und rannten mehr mit Leidenschaft als mit Überlegung auf die Römer ein.
Schon hatte sich das Glück gewandt, schon begünstigte der Beistand der Götter, mit der menschlichen Leitung in Verbindung, die Sache Roms. Also wurden die Gallier im ersten Zusammentreffen ebenso leicht besiegt, wie sie an der Allia gesiegt hatten. 6 In einer zweiten, ordentlichen Schlacht wurden sie am achten Meilenstein auf dem Wege nach Gabii, wohin sich ihre Flucht gewandt hatte, unter der glücklichen Anführung desselben Camillus abermals geschlagen. Hier war das Gemetzel allgemein; ihr Lager wurde erobert, und nicht einmal ein Bote ihres Unglückes entrann.
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